Schweiz hat im Fall Al-Dulimi die EMRK verletzt

Bern, 21.06.2016 - Die Schweiz hat bei der Umsetzung von Resolutionen des UNO-Sicherheitsrats im Zusammenhang mit dem Irak-Embargo das Recht auf Zugang zu einem Gericht verletzt. Dies hält die Grosse Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in ihrem heute in Strassburg verkündigten Urteil mit 15:2 Stimmen fest. Das Urteil ist endgültig und bestätigt das in der gleichen Sache gefällte Urteil einer Kammer des EGMR vom 26. November 2013. Das Bundesamt für Justiz (BJ), das die Schweizer Regierung vor dem EGMR vertritt, nimmt das Urteil der Grossen Kammer mit Interesse zur Kenntnis.

Das damalige Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (EVD, heute WBF) hatte im Jahr 2004 aufgrund der Resolution 1483 (2003) des UNO-Sicherheitsrats die Vermögenswerte des irakischen Staatsangehörigen Khalaf M. Al-Dulimi und seiner Firma Montana Management gesperrt. Im Jahr 2006 zog das EVD diese Vermögenswerte im Hinblick auf eine Überweisung an den Irak ein. Die Beschwerden gegen die Verfügungen des EVD wurden im Jahr 2008 in letzter Instanz vom Bundesgericht abgewiesen, namentlich mit der Begründung, dass die Sanktionen gemäss UNO-Charta Vorrang vor allen anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen (mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts) der UNO-Mitgliedsstaaten haben. Darauf machten Al-Dulimi und seine Firma vor dem EGMR geltend, die Schweiz habe ihr Recht auf Zugang zu einem Gericht in zivilrechtlichen Angelegenheiten (Art. 6 EMRK) verletzt, weil sie die Rechtmässigkeit der Sanktionen nie durch ein Gericht hätten ergebnisoffen überprüfen lassen können.

Eine Kammer des EGMR hielt in ihrem Urteil 26. November 2013 fest, dass die Beschwerdeführer ein Recht auf eine Prüfung der aufgrund der UNO-Sanktionen getroffenen Massnahmen durch die nationalen Gerichte hatten und die Schweiz somit das Recht auf Zugang zu einem Gericht in zivilrechtlichen Angelegenheiten verletzt habe. Die Schweiz ersuchte am 24. Februar 2014 um eine Neubeurteilung durch die Grosse Kammer. Sie wies in ihrem Ersuchen auf den Konflikt von zwei nicht miteinander zu vereinbarenden internationalen Verpflichtungen hin: zum einen die Verpflichtung der UNO-Mitgliedsstaaten, die Sanktionen des UNO-Sicherheitsrats vollumfänglich umzusetzen, zum anderen das Recht auf ein faires Verfahren, das gemäss der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eine Überprüfung der Vereinbarkeit der Sanktionen mit der EMRK verlangt.

Vorrang der EMRK

Das umfangreiche Grundsatzurteil der Grossen Kammer bestätigt aufgrund einer ersten Einschätzung den hohen Stellenwert, den der EGMR dem Recht auf Zugang zu einem Gericht in zivilrechtlichen Angelegenheiten beimisst. Solange eine UNO-Resolution nicht ausdrücklich eine gerichtliche Überprüfung der Sanktionen ausschliesst, muss sie gemäss EGMR so verstanden werden, dass sie eine angemessene Überprüfung durch die innerstaatlichen Gerichte zulässt. Diese Überprüfung kann sich auf eine Willkürkontrolle beschränken; auf diese Weise werde das Gleichgewicht zwischen der Respektierung der Menschenrechte und dem Schutz von Frieden und Sicherheit gewährleistet.

Al Dulimi kann nun innert 90 Tagen eine Revision des Entscheides des Bundesgerichts von 2008 verlangen. Bis zum Abschluss des Revisionsverfahrens bleiben die Vermögenswerte Al Dulimis eingezogen. Der EGMR entschied zudem einstimmig, den Beschwerdeführern keine Entschädigung zuzusprechen. Er hielt fest, dass kein Zusammenhang zwischen der Verletzung von Art. 6 EMRK und dem zurzeit rein hypothetischen materiellen Schaden besteht.

Die Schweiz wird sich weiterhin zusammen mit anderen Staaten dafür einsetzen, das Sanktionensystem der UNO und den Rechtsschutz der betroffenen Personen zu verbessern. So sind die Rechte der Betroffenen schrittweise ausgebaut worden. Der Rechtsschutz entspricht allerdings noch nicht dem Niveau der EMRK.


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