Rede zum Gedenkanlass der Novemberpogrome

Bern, 08.11.2015 - Rede der Bundespräsidentin in Zürich anlässlich des Gedenkabends zur Kristallnacht. Es gilt das gesprochene Wort.

Wie reagieren wir, wenn Tausende auf der Flucht sind?

Wie entscheiden wir uns, wenn Familien Schutz vor Krieg und Verfolgung suchen?

Schauen wir weg? Bleiben wir stille Beobachter? Oder versuchen wir zu helfen?

Wir alle müssen uns diese Fragen stellen.

Jeder Einzelne für sich.

Aber auch unser Land als Ganzes.

Die Antwort, die wir geben, hat unmittelbare Konsequenzen für die Betroffenen.

Das ist heute so. Das war in der Vergangenheit nicht anders.

Vor 77 Jahren kam es im Nationalsozialistischen Deutschland zu Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung.

Hunderte starben, Tausende wurden in Konzentrationslager verschleppt und verloren alles. Die Nationalsozialisten zerstörten Synagogen und Friedhöfe. Jüdische Schulen und Kindergärten gingen in Flammen auf.

Die Novemberpogrome, auch bekannt unter dem Namen "Reichskristallnacht", bildeten den brutalen Auftakt für die systematische Verfolgung der deutschen Juden.

Auf die Entrechtung und Vertreibung der Juden folgte die Vernichtung.

Nur wenige Tage nach den Novemberpogromen unterhielt sich der Schweizer Gesandte in Paris, Walter Stucki, mit dem deutschen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker.

Was Stucki nach dem Gespräch ins Aussendepartement nach Bern rapportierte, liess keinen Raum für Zweifel:
Die rund 500'000 Juden, die damals noch in Deutschland lebten, gingen, so Stucki wörtlich, "über kurz oder lang ihrer vollständigen Vernichtung entgegen".

Doch Stuckis Worte verhallten in Bern. Der Bundesrat blieb bei seiner Politik, und das hiess damals:
Juden, die dem NS-Regime zu entkommen versuchten, galten in der Schweiz nicht als Flüchtlinge.

Doch nicht nur das: Kurz vor den Novemberpogromen hatten sich die Schweiz und Deutschland auf die Einführung des J-Stempels geeinigt.

Der J-Stempel ermöglichte es den Schweizer Behörden, jüdische Flüchtlinge leichter zu identifizieren. Viele von ihnen wurden an der Grenze zurückgewiesen.

Heute wissen wir: Die Schweiz hat damals ihre Landesinteressen viel zu eng verstanden. Sie hat sich von jenen abgewendet, die auf Schutz angewiesen waren.

Meine Damen und Herren, auch heute sind viele Menschen auf der Flucht. Hunderttausende drängen nach Europa.

Die Gründe für die gegenwärtigen Migrationsströme sind vielfältig. Die einen fliehen vor Krieg, Folter und Elend, die anderen vor Armut und fehlenden Perspektiven. Was die Migranten eint, ist die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Kein Land in Europa kann mit dieser Herausforderung allein fertig werden.

Der Bundesrat hat deshalb von Beginn der Krise an auf europäische Lösungen gedrängt.

Ich selber habe schon nach dem Arabischen Frühling in Brüssel gefordert, Europa müsse eine gemeinsame und solidarischere Flüchtlingspolitik entwickeln. Dazu gehört für mich ein Verteilschlüssel, der die Flüchtlinge gerecht auf die europäischen Staaten verteilt.

Es gab gegen diese Forderung stets Widerstand, nicht zuletzt auch von Staaten, die sich mittlerweile ebenfalls für einen Verteilschlüssel einsetzen, weil sie plötzlich viel mehr Flüchtlinge haben als zuvor.

Die Schweiz setzt sich für gemeinsame Lösungen ein, sie hat es aber nicht unterlassen, auch eigenständig eine Reihe von Massnahmen zu ergreifen:
Wir haben mehrere Tausend Syrerinnen und Syrer einreisen lassen, die Angehörige in der Schweiz haben.
Wir holen besonders verletzliche Personen direkt aus Flüchtlingslagern in der Krisenregion zu uns in die Schweiz.

Und wir leisten Direkthilfe vor Ort.

Doch ist das genug?

Meine Damen und Herren, blicken wir nochmals zurück:
Es war ein Mangel an Menschlichkeit, der die Schweizer Flüchtlingspolitik im Anschluss an die Novemberpogrome prägte. Viele Jüdinnen und Juden haben dafür mit ihrem Leben bezahlt.

Einer meiner Vorgänger, Kaspar Villiger, hat sich 1995 als Bundespräsident für diese Politik entschuldigt.
Wie wird man in 50 Jahren über unsere heutige Flüchtlingspolitik denken?

Es liegst an uns, an uns allen, diese Antwort zu geben: an der Politik, an der Zivilgesellschaft, an jedem einzelnen Bürger, an jeder einzelnen Bürgerin.

Meine Damen und Herren: Es soll sich in 50 Jahren niemand für uns entschuldigen müssen. Richten wir uns deshalb aus an der menschlichen Würde. Rufen wir uns heute Abend an diesem Gedenkanlass in Erinnerung:
Nichts - nichts ist kostbarer als die Würde des Menschen.

Ich möchte Ihnen damit die Grüsse und die besten Wünsche der Landesregierung überbringen.


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