Bundespräsidentin Sommaruga zur Lage nach den Anschlägen von Paris

Bern, 18.11.2015 - Medienkonferenz des Bundesrates vom 18. November 2015. Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich habe letzten Samstag kurz nach den Anschlägen von Paris gesagt, dass ich Trauer und gleichzeitig auch Wut empfinde. Heute, ein paar Tage später, geht es uns vermutlich allen gleich: Die Anschläge von letzten Freitagabend gehen uns nicht aus dem Kopf und wir verfolgen gebannt die Ereignisse in Paris, bei denen sich heute wieder eine Frau mit einem Sprenggürtel in die Luft gesprengt hat:

Wir wollen, wir können diese Taten nicht hinnehmen.

Zwar fallen die Reaktionen sehr unterschiedlich aus, in Frankreich selber, aber auch in der Schweiz und in anderen Staaten.
Die einen wollen sofort und sehr heftig reagieren: kriegerische Vergeltungsmassnahmen, massive Überwachung, starker Ausbau der Kontrollen usw.

Andere fordern weniger weit gehende Massnahmen.

Aber niemand sagt, es sei nichts zu tun. Wir sind uns alle einig:

Wir können diese Taten unmöglich einfach hinnehmen.

Warum sind wir uns hier einig?

Die Antwort ist einfach.

Erstens: Die Attentate beeinträchtigen unsere Sicherheit.

Und das können wir nicht akzeptieren. Sicherheit ist eines der höchsten Güter überhaupt. Mit der Sicherheit ist es ein wenig wie mit der Gesundheit: Wir erkennen ihren Wert oft erst dann, wenn wir merken, dass sie nicht einfach selbstverständlich ist.

Zweitens können wir diese Taten nicht einfach hinnehmen:

Weil sie eben ein Angriff sind auf den Kern unserer gemeinsamen Werte:

  • auf die freie Gesellschaft, und damit:
  • auf unsere Freiheit zu tun, zu denken, zu glauben und zu sagen, was wir tun, denken, glauben und sagen wollen.

Meine Damen und Herren: Wir werden diese Freiheit, wir werden unsere Freiheit gemeinsam verteidigen.

Und doch weiss jeder vernünftige Mensch:

Es gibt die hundertprozentige Sicherheit nicht, und wenn wir ehrlich sind, dürfen wir uns auch eingestehen:

Wir empfinden gegenüber unmenschlichen, grausamen Taten wie jenen von Paris eine gewisse Ohnmacht.

Das heisst aber selbstverständlich nicht, dass wir nichts tun. Im Gegenteil. Es ist die Aufgabe der Politik, auf die menschliche Reaktion die politische Tat folgen zu lassen. Die politische Tat hat nicht in erster Linie der Angst oder dem Zorn zu folgen, sondern: der Vernunft. Das ist es denn auch, was wir in den letzten Tagen versucht haben:

Vernünftige Massnahmen zu eruieren. Also keine symbolischen oder übereiligen Massnahmen, sondern wirksame und nötige Massnahmen. In diesem Sinne haben Bundesrat Maurer und ich den Bundesrat heute über die aktuelle Bedrohungslage nach den Anschlägen in Paris informiert - und über Entscheide und Massnahmen, die seither getroffen wurden:

  • Die zuständigen Behörden bei uns haben schnell reagiert, unmittelbar nach den Anschlägen am frühen Samstag sind sie zusammen gekommen. Das Ziel war eine Absprache, eine Koordination und allfällige Sofortmassnahmen. Mit dabei waren fedpol, der NDB, das EDA, das SEM, das GWK sowie Vertreter der kantonalen Polizeikommandanten;
  • Das fedpol hat ausserdem zwei Bundespolizisten sofort nach Paris entsandt.
  • Die Kerngruppe Sicherheit traf sich am Samstagnachmittag. Die Kerngruppe Sicherheit ist das zentrale Organ des Bundes zur Steuerung von Sicherheitsmassnahmen.

Die Sicherheitsorgane von Bund und Kantonen sind also gut vernetzt, arbeiten eng und effizient zusammen; nicht erst seit dem Wochenende: Sie haben ihre Zusammenarbeit bereits seit den Attentaten von Januar in Paris stark intensiviert.

Aktuelle Lage:

  • Zurzeit gibt es keine konkreten Informationen über eine direkte Bedrohung für die Schweiz oder die Schweizer Interessen im Ausland.
  • Wir haben auch keine Informationen über einen Bezug der Attentäter zur Schweiz.
  • Aber: Die Bedrohungslage in ganz Europa ist erhöht, das hat auch Auswirkungen auf die Schweiz. Deshalb: Wir verfolgen die Lage weiterhin aufmerksam und bereiten uns vor für allfällige, zusätzliche Massnahmen, falls nötig.

Getroffene Massnahmen:

  • fedpol ermittelt mit NDB weiter, ob es Bezüge zur Schweiz gibt. fedpol stellt auch den internationalen polizeilichen Informationsaustausch sicher, vor allem mit den französischen Behörden.
  • Der NDB verfolgt die nachrichtendienstliche Lage und aktualisiert das Lagebild laufend.
  • Das EDA hat die verletzte Schweizerin vor Ort betreut und die Rückführung in die Schweiz organisiert.
  • Die Helpline, die das EDA eingerichtet hat, ist nach wie vor aktiv.
  • Das GWK setzt seine Schwergewichtsaktionen aufgrund der Migrationslage fort und hat die Kontrolldichte an neuralgischen Punkten (Bahn- und Flughäfen sowie an der Grenze) erhöht. Zudem führt das GWK gemischte Grenzpatrouillen mit der französischen Grenzpolizei durch.
  • Das SEM stellt die rasche und umfassende Registrierung der Migranten auch bei erhöhtem Migrationsdruck sicher und unterstützt die Kantone.
  • Die kantonalen und städtischen Polizeiorgane stehen in engem Kontakt mit den zuständigen Stellen des Bundes. Sie haben die Präsenz der Polizei erhöht (auch bei offiziellen französischen Einrichtungen in Bern, Genf und Zürich).

Der Bundesrat ist der Auffassung: diese Schutzmassnahmen sind der aktuellen Situation angepasst, sie reichen derzeit aus. Die Kerngruppe Sicherheit prüft jedoch weitere Massnahmen - für den Fall, dass sich die Lage ändern würde. Sie prüfen insbesondere eine subsidiäre Unterstützung des GWK durch die Armee und sie prüfen ebenfalls mögliche Ressourcenaufstockung bei NDB, fedpol, EDA.

Zur Erinnerung:

  • Bereits seit November 2014 gibt es die Task Force TETRA (Terrorist Travellers). Ihr Auftrag sind Lagebeurteilungen, sie hat zudem Massnahmen vorschlagen gegen Dschihad-Reisende. Geprüft werden u.a. ein Ausreiseverbot und die Möglichkeit von verdeckten Ausschreibungen.
  • Und: Im September 2015 hat der Bundesrat eine Strategie der Schweiz zur Bekämpfung des Terrorismus verabschiedet.

Wichtig ist im Moment vor allem eines:
Wir müssen die Bedürfnisse sachlich analysieren; nur nötige und nützliche Massnahmen ergreifen, symbolische Massnahmen bringen nichts, reiner Aktivismus bringt auch nichts.

Verfehlt sind antimuslimische Reflexe;

  • Das Dilemma ist bekannt. Sollen sich friedliche Muslime nach jedem Anschlag von kriminellen Extremisten aktiv distanzieren?
  • Oder besteht die deutlichste Distanzierung nicht gerade darin, dass man sich nicht aktiv distanziert und so die Botschaft aussendet, dass es völlig absurd ist, mit solch abscheulichen Taten nur schon in Verbindung gebracht zu werden.
  • Meine Meinung dazu ist klar: Wir alle müssen unabhängig von unserem Glauben dazu beitragen, dass Hass und Gewalt eingedämmt werden. In dieser Verantwortung stehen Muslime in ihren Gemeinschaften, in dieser Verantwortung stehen aber auch wir. Und ganz sicher ist es das falsche Rezept, den Krieg der Religionen auszurufen oder gewisse Religionen per se anzugreifen und als gefährlich zu brandmarken.

Verfehlt wäre es auch, Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen: Diese Menschen fliehen ja oft selbst vor Krieg und terroristischen Gruppierungen.

  • Es gibt aber Hinweise, dass Kriminelle Migrationsströme nutzen, um nach Europa zu kommen.
  • Andere Wege sind aber sehr viel wahrscheinlicher, weil sie weniger Risiken bergen, viel schneller und einfacher sind.
  • Aber ja: Es ist möglich, dass sich unter ankommenden Flüchtlingen auch Menschen mit verbrecherischen Absichten befinden. Deshalb leitet das SEM alle Dossiers aus Risikostaaten wie Syrien dem NDB zur Prüfung weiter.

Zu den Grenzkontrollen:

  • Das GWK ist bereits heute an der Grenze präsent und führt verdachtsabhängige Personenkontrollen und Warenkontrollen durch, da die Schweiz nicht Mitglied der Zollunion ist. In der aktuellen Migrationslage führt es Schwerpunktkontrollen insbesondere an der Nord- und Ostgrenze durch. Seit den Anschlägen in Paris hat es seine Kontrolltätigkeit an der Grenze zu Frankreich verstärkt.
  • Vorübergehende Wiedereinführung systematischer Grenzkontrollen wären laut Schengener Abkommen zwar möglich. Aber: Voraussetzung ist eine „schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit". Nach Auffassung des Bundesrates ist diese Voraussetzung für die Schweiz zurzeit nicht erfüllt. Es gibt keinen direkten Bezug der Anschläge von Paris zur Schweiz. Nebenbei: Die lückenlose Kontrolle der 750'000 Grenzübertritte jeden Tag und der 350‘000 Fahrzeuge, die täglich die Schweizer Grenze passieren, ist nicht möglich und war auch vor Schengen nicht möglich.

Die Ereignisse vom letzten Freitag zeigen auch:

  • Die Bemühungen um eine politische Lösung des Konflikts in Syrien sind wichtiger denn je. Die Schweiz unterstützt den Sondergesandten der UNO.
  • Die Syriengespräche vom Wochenende in Wien sind hilfreich, wenn es einen Fahrplan für einen Übergangsprozess gibt.
  • Nötig ist zudem: Eine stärkere Kooperation zur Bekämpfung des Terrorismus und gewalttätigen Extremismus. Deshalb nehme ich am Freitag teil am ausserordentlichen Treffen der EU-Innenminister in Brüssel
  • Es ist essentiell, dass sich die Schweiz an diesen Diskussionen über Massnahmen auf europäischer Ebene beteiligt und sich auch einbringt. Kein Staat kann Terrorismus alleine bekämpfen.


Adresse für Rückfragen

Kommunikationsdienst EJPD, T +41 58 462 18 18



Herausgeber

Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement
http://www.ejpd.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90982.html