Delegiertenversammlung SP Schweiz

Bern, 16.04.2016 - Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Genossinnen und Genossen

Wir fassen heute die Parolen für die Abstimmungen vom 5. Juni. Wir schauen also nach vorne - aber werfen wir doch einen kurzen Blick zurück auf die letzten Abstimmungen:

Fast 60% der Stimmbürger/-innen haben am 28. Februar die Durchsetzungsinitiative abgelehnt. Hier in La Chaux-de-Fonds war das Ergebnis noch deutlicher, hier haben zwei von drei Stimmenden nein gesagt.

Der 28. Februar war ein wichtiger Tag auch für uns Sozialdemokrat/-innen:

Wir haben entscheidend dazu beigetragen, dass an diesem Tag Werte verteidigt wurden, für die wir uns immer ohne Wenn und Aber eingesetzt haben:

Ich meine den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die Menschenrechte.

Und ich meine ganz besonders unseren Umgang mit Ausländerinnen und Secondos:

  • Das Nein zur DSI war eine Absage an all jene, die Ausländerinnen wie Menschen zweiter Klasse behandeln wollen. 
  • Das akzeptieren wir nicht, und ich wiederhole es heute noch einmal: 
  • Die Ausländer, die Second/-as sind Teil der Schweiz, sie gehören zu uns. Genau so sollen sie auch behandelt werden. Und genau so behandeln wir sie auch.

Bei aller Freude über den 28.2.: Das Nein zur DSI darf keine Eintagsfliege bleiben. Wir werden auch die Selbstbestimmungsinitiative bodigen müssen, die ein Angriff ist auf den internationalen Schutz der Menschenrechte.

Und am 5. Juni stimmen wir über ein neues Asylgesetz ab. Zwei Kernelemente prägen dieses Gesetz:

  • Zum einen werden die Asylverfahren beschleunigt. 
  • Zum anderen erhalten die Asylsuchenden neu einen umfassenden und unentgeltlichen Rechtsschutz.

Wir werden bis zum 5. Juni zahlreiche Diskussionen über unsere Asylwesen führen, über Verbesserungen, über problematische Aspekte - und das ist gut so.

Denn ich bin überzeugt: Man kann mit einem Asylgesetz nicht alle Probleme aus der Welt schaffen. Aber man kann ein Asylwesen besser oder weniger gut organisieren.

Und ich bin auch überzeugt: Die Revision des Asylgesetzes bringt nicht nur schnellere Verfahren. Die Revision verbessert auch die Situation für die Asylsuchenden:

Das sagen auch Rechtsvertreter, die dem neuen beschleunigten Verfahren anfangs sehr wohl kritisch gegenüberstanden. Sie bestätigen nach den Erfahrungen im Testbetrieb Zürich, dass sie ihre Aufgabe - nämlich die Rechte der Asylsuchenden zu vertreten - heute besser wahrnehmen können als im alten System.

Warum ist das so? Weil sie näher an den Fällen dran sind und vom ersten Tag an mit den Asylsuchenden in Kontakt stehen. Die Asylsuchenden haben von Anfang an eine Bezugsperson, die an ihrer Seite - und auf ihrer Seite - steht. Das macht das neue System nicht nur effizienter, sondern auch menschlicher.

Und vergessen wir nicht: Wer als Flüchtling aufgenommen wird, der kann sich dank der schnelleren Verfahren auch schneller beruflich integrieren. Auch dies ist im Interesse der Asylsuchenden.

Ich finde übrigens ganz generell nicht, dass lange Fristen und Verfahren Asylsuchenden dienen. Was nützt es einem Asylsuchenden, drei oder vier Jahre auf ein Nein zu warten? Das sind oft Jahre der Ungewissheit, ohne Arbeit und Perspektiven, verlorene Jahre, und das oft im besten Alter. Das kann nicht unser Ziel sein.

Natürlich kann man von linker Seite argumentieren, dass auch das neue Gesetz kein perfektes Gesetz ist. Manche stellen sich deshalb die Frage, ob sie dagegen sein sollen.

Ich möchte historisch argumentieren: Die Asylgesetzrevisionen der letzten Jahre und Jahrzehnte hatten immer nur eine Stossrichtung, nämlich die Verschärfung. Jetzt haben wir es endlich - gemeinsam - geschafft, eine Vorlage zu verabschieden, die den Asylsuchenden etwas bringt und die gleichzeitig die Glaubwürdigkeit der Asylpolitik in der Bevölkerung stärkt.

Wer nein sagt zu dieser Vorlage, sagt also auch nein zu diesen Verbesserungen. Und ich füge hinzu: Ich bin mir nicht so sicher, wie bald die Chance wiederkommt, im Asylbereich Verbesserungen für Flüchtlinge gesetzlich zu verankern. Genoss/-innen und Genossen:

Bei all dieser innenpolitischen Fokussierung dürfen wir etwas nie vergessen - und zwar die eigentlichen Gründe, weshalb Menschen in andere Länder fliehen.

Gerade jene, die in der Asylpolitik nicht an Lösungen interessiert sind, sondern nur an innenpolitischer Polemik, reden kaum je über die Ursachen von Flucht.

Sie versuchen den Eindruck zu erwecken, die ganze Welt wolle nach Europa. Die Zahlen sprechen eine ganz andere Sprache: Mehrere Millionen Menschen haben Zuflucht gesucht in den Nachbarstaaten Syriens. Und selbst in einem Land wie Äthiopien, wo über 10 Mio. Menschen an Hunger leiden, halten sich über 1 Mio. Flüchtlinge auf.

Eigentlich müssten doch jene, die jeden Flüchtling aus unserem Land fernhalten möchten, sich wenigstens dafür einsetzen, dass mit der Entwicklungshilfe die Fluchtgründe vermindert werden - doch weit gefehlt: Sie reden von Hilfe vor Ort und streichen gleichzeitig in der Finanzkommission die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit.

Wir dürfen deshalb die Gründe, weshalb Menschen fliehen, nie ausblenden - denn sie sind der Kern der Asylthematik.

Wir wissen ja: Es gibt verschiedene Formen der Flucht. Es kann doch nicht sein, Genossinnen und Genossen, dass man mit grösstem Verständnis alle möglichen Gründe für Steuerflucht verteidigt - dass man aber gleichzeitig überhaupt kein Verständnis hat für Menschen, die sich für die Flucht aus unerträglichen Lebenssituationen entscheiden.

Denken wir nur an die Lage im Irak in Afghanistan oder denken wir an den Krieg in Syrien. Verlieren wir diese Realitäten nicht aus den Augen. Vergessen wir nicht,

  • dass in den letzten 5 Jahren jeder zehnte Syrer entweder getötet oder verletzt wurde.
  • Vergessen wir nicht, dass jeder zweite Mann, jede zweite Frau, jedes zweite Kind in Syrien auf der Flucht ist (davon die Mehrheit im Innern des Landes);
  • dass zwei von drei Syrer/-innen ihre Arbeit verloren haben;
  • dass nur noch jedes zweite Kind zur Schule geht;
  • dass Syrien ein Land mittlerer Entwicklung war und heute im UNO-Ranking hinter Länder wie Sudan oder Afghanistan zurückgefallen ist. 
  • Und vergessen wir nicht, dass die durchschnittliche Lebenserwartung von über 70 Jahren auf 55 Jahre gefallen ist - und das, wie gesagt, in fünf Jahren.

Genossinnen und Genossen, das sind Realitäten, das ist menschliches Leid. Hier können wir nicht gleichgültig wegschauen.
Natürlich empfinden wir alle angesichts solcher Bürgerkriege eine gewisse Ohnmacht. Und es gibt auch keine einfachen Lösungen und Rezepte im Umgang mit grossen Flüchtlingsströmen.

Aber wir wissen auch: Europa, die EU, hat letztes Jahr keine überzeugenden Antworten auf die Flüchtlingskrise gegeben. Ich habe das in Brüssel selber immer wieder kritisiert, ich wiederhole es hier noch einmal:

  • Was uns nicht weiter bringt, sind nationale Ansätze, die oft ausschliesslich innenpolitisch motiviert sind.
  • Was uns nicht weiter bringt, sind unkoordinierte Grenzschliessungen, die einen Dominoeffekt auslösen und Probleme nicht lösen, sondern nur verlagern.
  • Was wir brauchen, ist eine gemeinsame und solidarische europäische Asylpolitik;
  • also einen Verteilschlüssel, an dem sich alle europäischen Staaten beteiligen.

Genau diese Forderung habe ich in Brüssel schon nach Ausbruch des arabischen Frühlings gestellt - damals war diese Forderung aber chancenlos.

Aber immerhin: Unter dem grossen Druck der Krise hat sich in Europa doch etwas bewegt:

  • Es wurden europäische Resettlement- und 
  • Relocation-Programme beschlossen.
  • Und jetzt liegen endlich ernsthafte Vorschläge für eine Reform des Dublin-Abkommens vor, die in Richtung einer solidarischeren Asylpolitik gehen.

Genossinnen und Genossen, die EU hat noch ein paar andere Probleme. Und wir selber haben seit der MEI ein ziemlich grosses Problem mit der EU. Für den Bundesrat ist aber Folgendes klar:

Wir wollen mit der EU eine einvernehmliche Lösung suchen. Das wird nicht einfach. Aber wir werden alles dafür tun. Denn wir wissen: Die EU ist der wichtigste Partner der Schweiz. In jeder Hinsicht - wirtschaftlich, in Bereichen wie Forschung, Bildung und Kultur, und nicht zuletzt auch in Bezug auf die Sicherheit.

Jene, die auf jedes Problem der EU mit einer seltsamen Schadenfreude reagieren, verkennen nicht nur die Bedeutung der EU für die Schweiz. Sie vergessen auch, dass wir unseren Wohlstand in der Schweiz wesentlich dem Umstand verdanken, dass es der EU gelungen ist, in Mitteleuropa seit über sieben Jahrzehnten für Frieden zu sorgen.

Was wir brauchen, ist eine starke Partnerschaft zwischen der EU und der Schweiz. Das weiss der Bundesrat, und dafür wird er sich auch einsetzen.

Genossinnen und Genossen, ein paar abschliessende Bemerkungen zum BÜPF. Ich weiss, das ist kein einfaches Thema für die Partei - ich bin aber überzeugt, dass die Vorlage, wie sie jetzt vom Parlament verabschiedet wurde, zu unterstützen ist. Und zwar weil sie den schwierigen Spagat zwischen zwei unbestrittenen und legitimen Zielen schafft:

Einerseits sind wir uns einig, dass es auch möglich sein muss, über Skype oder WhatsApp vorbereitete oder begangene Verbrechen aufklären und verfolgen zu können.

Anderseits - und auch da sind wir uns einig - gewichten wir die Freiheit des Bürgers und somit den Datenschutz hoch.

Das BÜPF trägt beidem Rechnung: Es lässt die Überwachung nur unter engen Voraussetzungen zu, aber es vollzieht die Anpassung von den alten PTT-Telefonen mit den Drehscheiben hin zum Internetzeitalter.

Ein Staatsanwalt erzählte neulich von einem Fall, bei dem die Ermittler Mitglieder einer mafiösen Organisation abhörten und diese an einem gewissen Punkt dann sagten: „Wechseln wir auf Skype." - Das kann es wirklich nicht sein, und nochmals: Es geht hier nicht um die Überwachung von unbescholtenen Bürgern, sondern um kriminelle Taten.

Genossinnen und Genossen, wir fassen heute wie gesagt Parolen für die nächsten Abstimmungen. Das ist bei manchen Fragen ganz einfach, bei anderen sehr anspruchsvoll. Wir alle kennen das Dilemma zwischen politischen Idealvorstellungen und realpolitischen Überlegungen. In diesem Spannungsfeld werden wir uns gewiss auch heute das eine oder andere mal wiederfinden. Ich wünsche uns allen spannende Diskussionen und eine fruchtbare Delegiertenversammlung.

 


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