Berner Literaturfest

Bern, 20.08.2016 - Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga an der Hommage "wo chiemte mer hi?" anlässlich des 95. Geburtstags von Kurt Marti. Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Leserinnen und Leser
Liebe Schreiberinnen und Schreiber
Geschätztes Berner Publikum

 
Kurt Marti hat mir einmal eine Karte geschickt mit den zwei Sätzen von ihm:
"Ich glaube nicht, dass es einen vorhersehbaren Weg gibt. Der Weg kommt, indem wir gehen."

Ich habe die Karte aufbewahrt. Manchmal lese ich sie wieder; und ich verrate Ihnen kein Geheimnis - darauf sind Sie schon längst selber gekommen -, dass die Karte seit einiger Zeit gleich neben dem EU-Dossier liegt.

 
Die Literatur kennt keine Dossiers. Die Literatur erzählt: über das Besondere, über das Individuelle, über das Lokale. Doch eigentlich erzählt sie uns von der ganzen Welt. Das heisst: Wer Seldwyla kennt, hat vieles von der Welt verstanden. Denn das Lokale ist in der Literatur immer bloss der Ausgangspunkt.

Mit der Politik ist es ähnlich. Auch Politik fängt häufig im Kleinen an: Bei der Dorfschule, die geschlossen wird. Beim Bach, der verschmutzt ist, oder bei der Suche nach einem Standort für ein Asylzentrum.

Doch auch die Politik hört selten im Kleinen auf. Probleme machen nicht an Ortstafeln halt. Und die meisten Lösungen liegen nicht vor der Haustüre.

Wie die Literatur muss deshalb auch die Politik den Bogen schlagen vom Einzelnen zur Gesellschaft, vom Lokalen zur Welt.

Ich kann keine Asylpolitik machen, ohne die Situation in den Gemeinden zu kennen. Aber ich kann ebenfalls keine Asylpolitik machen, ohne den grösseren Kontext einzubeziehen: die Gewalt, das Unrecht und das Elend in Syrien, zum Beispiel, das Hunderttausende von Menschen in die Flucht treibt.

 
Literatur und Politik beginnen im Kleinen. Das Lokale ist deshalb wichtig, gerade in unserer globalisierten Zeit, die viele verunsichert. Denn wir sind nicht nur verunsichert, weil wir das Neue und das Fremde nicht kennen. Wir sind auch verunsichert, weil wir teilweise vergessen haben, was uns verbindet und woher wir kommen.

Pflegen wir deshalb unsere Kultur.

Und mit Kultur meine ich auch ganz alltägliche Dinge, das Lokale eben: den Zibelemärit, das gemeinsame Musizieren, das Schwingfest und die Lesungen in den Gassen von Bern - das Literaturfest eben.

Kultur stiftet Verbindung zwischen Menschen.

Pflegen wir unsere Kultur. Auch sie ist nämlich: ein Ausgangspunkt. Denn wer sich in seiner Kultur gut verankert und verwurzelt fühlt, der wird anderen Kulturen offen, respektvoll und neugierig begegnen.

 
Und das heisst auch: Vergessen wir nicht unsere Verbundenheit zu unseren Nachbarn: Europa prägt uns. Das war früher so - Stichwort Aufklärung -, das ist heute so.

Die Europäische Union befindet sich zurzeit wohl in einer ihrer grössten Krisen. Ich nehme das auch so wahr. Und wie reagieren wir darauf? Mit Schadenfreude oder gar mit Häme? - Was für eine Geschichtsvergessenheit und was für eine Selbstüberschätzung aus solchen Reaktionen spricht!

Die europäische Einigung hat dem Kontinent und damit auch uns - der Schweiz - Frieden und Stabilität gebracht, nach Jahrhunderten mit blutigen Auseinandersetzungen. Sie hat damit auch uns geprägt und das heisst: wir sind Teil der europäischen Identität.

 
Meine Damen und Herren: Auch bei Kurt Marti ist das Lokale bedeutsam, weil das Lokale immer ein Ausgangspunkt ist, der Anfang einer Reise - für den Einzelnen, aber auch für eine Gemeinschaft.

Leserinnen und Leser wissen deshalb: Literatur schafft Identität.

Und Ihnen, geschätzte Autorinnen und Autoren, möchte ich deshalb sagen: Ihre Arbeit ist von unschätzbarem Wert für unser Land, für unsere Gesellschaft, für uns alle. Dafür danke ich Ihnen von ganzem Herzen.

Es ist mir eine Freude und eine Ehre, Ihnen die Grüsse und die Wertschätzung der Landesregierung zu überbringen.

 


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