Die Schweiz als Modell für eine Europäische Asylpolitik

Bern, 05.01.2017 - Rede von Bundesrätin Sommaruga am Regierungsseminar 2017 in Interlaken (Konferenz der Kantonsregierungen, KdK). Es gilt das gesprochene Wort.

Mein Arbeitsjahr hat vor zwölf Monaten mit der Meldung begonnen, dass das Referendum gegen das Asylgesetz zustande gekommen ist.

Dieses Jahr fängt spürbar freundlicher an: Ich darf mein offizielles Arbeitsjahr zusammen mit Ihnen beginnen.
Ich erachte das als gutes Omen. Denn das Asylwesen, über das wir heute sprechen, ist ein Musterbeispiel dafür, was eine gute Zusammenarbeit in unserem föderalistischen System zustande bringt.

Das Asylwesen beschäftigt Bevölkerung und Politik stark. Das ist nicht neu. Erst kürzlich hat mir ein Mitarbeiter an einem Dienstjubilaren-Anlass eine bemerkenswerte Episode aus früheren Tagen erzählt. Die Episode geht zurück auf das Jahr 1996 und handelt vom ersten Sonderflug, den die Schweiz durchgeführt hat, um abgewiesene Asylbewerber zwangsweise auszuschaffen.
Der erste Flug, so hat es mir mein Mitarbeiter geschildert, ging in den Libanon. Die abgewiesenen Asylbewerber mussten sich nackt ausziehen, sie erhielten eine Windel und wurden dann im Flugzeug an ihrem Sitz angebunden. 15 Minuten vor der Landung gab man ihnen ein paar Kleidungsstücke, die sie sich überstülpen konnten, und dann setzte der Flieger in Beirut auf. So funktionierten die ersten Zwangsrückschaffungen.

Da stellt sich schon die Frage, wie ich darauf komme, ein Referat zum Thema "Die Schweiz als Modell für ein europäisches Asylsystem" zu halten.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es geht mir heute nicht darum, Staaten wie Griechenland und Italien aus sicherer Distanz ein paar gutgemeinte Ratschläge zu geben. Und doch können wir ohne falsche Bescheidenheit sagen: Wir haben in der Asylpolitik in den letzten Jahren zusammen einiges erreicht. Und mit "Wir" meine ich den Bund, die Kantone und die Gemeinden.

Seit 1996 hat sich vieles zum Guten verändert - nicht nur bei den Sonderflügen. Unser Modell, das auf gemeinsamen Zielen beruht, auf Dialog, auf Solidarität und auf einer sinnvollen Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden - dieses Modell könnte auch für die EU von Interesse sein. Schliesslich geht es in der EU um dieselbe Frage, über die wir in der Schweiz in den letzten Jahren intensiv diskutiert haben: Wie finden verschiedene Akteure gemeinsam sinnvolle Lösungen?

Die Bedeutung des Verteilschlüssels

Eine wichtige Rolle kommt in unserem Asylsystem dem Verteilschlüssel zu. Die Idee dahinter ist ebenso simpel wie einleuchtend: Die Lasten, die mit der Asylpolitik verbunden sind, sollen von allen gleichmässig getragen werden. Deshalb verteilen wir die Asylsuchenden auf die Kantone.

Diese Form von Solidarität zwischen den Kantonen ist in der Schweiz mittlerweile eine Selbstverständlichkeit. Die EU hingegen ist von einer solchen Lösung noch weit entfernt. Wir reden zwar gerne davon, dass die EU alles zentralisiert. Doch beim Thema Asyl wäre etwas mehr zentrale Steuerung und Harmonisierung wünschenswert.

Ich kenne ja die Situation in der EU ziemlich gut, treffe ich mich doch praktisch jeden Monat mit meinen Amtskollegen aus der EU im Rat der Europäischen Justiz- und Innenminister. Und dort wird jeweils offensichtlich, dass nur zu häufig eine einzelstaatliche Sicht dominiert.

Um es überspitzt zu sagen: Der Dublin-Besitzstand regelt zwar wichtige Einzelfragen und Zuständigkeiten. Doch der Blick fürs Ganze kommt zu kurz; das wurde spätestens im letzten Jahr unübersehbar, als die Flüchtlingskrise in Europa ankam.
Natürlich macht es Sinn, dass jeweils nur ein europäisches Land für ein Asylverfahren zuständig ist; und dass diese Zuständigkeit grundsätzlich im Erstaufnahmestaat liegt, ist aus logistischen Gründen nachvollziehbar. Gerade die Schweiz profitiert von dieser Regelung ungemein. Wir übergeben von allen Dublin-Staaten am meisten Asylsuchende an den Erstaufnahmestaat.

Doch Dublin hat keine Antwort darauf, was passiert, wenn innert kurzer Zeit sehr viele Migranten kommen und diese sich - aus geografischen Gründen - auf einzelne Staaten konzentrieren. Genau das passierte aber 2015. Über 800'000 Flüchtlinge, Migranten, Familien, Frauen, Männer, Kinder sind in Griechenland angekommen. Gemäss Dublin-System hätte Griechenland sie alle registrieren und dann die Asylverfahren durchführen müssen. Dass das nicht funktionieren kann, überrascht niemanden.

Seit Jahren habe ich namens der Schweiz einen europäischen Verteilschlüssel gefordert, natürlich auch deshalb, weil wir in der Schweiz damals überdurchschnittlich viele Asylgesuche verzeichnet hatten.

Doch es geht nicht nur um uns. Ich bin überzeugt, dass die Flüchtlingspolitik in Europa ohne Solidarität nicht funktionieren kann. Genau gleich, wie ohne Solidarität zwischen den Kantonen unser Asylsystem nicht funktionieren würde. Oder stellen Sie sich vor, von den 40'000 Asylsuchenden im Jahr 2015 wären 25'000 ins Tessin und 15'000 nach St. Gallen eingereist - und der Rest der Schweiz hätte zu den beiden Kantonen gesagt: Sorry, aber da müsst ihr jetzt selber schauen.

Was ich im Rat der Justiz- und Innenminister in den letzten Monaten erlebt habe, sind die ersten Versuche, das bisherige System zu korrigieren. Resultat dieser Bemühungen ist das Relocation-Programm der EU, das die Justiz- und Innenminister im Jahr 2015 beschlossen haben. Mit dem Programm sollen Italien und Griechenland entlastet werden. Die beiden Staaten kontrollieren die Grenzen und registrieren die Neuankömmlinge. Im Gegenzug übernehmen die übrigen europäischen Staaten 106‘000 Migranten von ihnen.

Die Schweiz macht mit bei diesem Programm. Wir übernehmen aus Italien und Griechenland bis zu 1500 Asylsuchende, die dann hier bei uns ein Asylverfahren durchlaufen.

Vielleicht wird man das Relocation-Programm in zehn Jahren einmal als Vorboten für einen Paradigmenwechsel anschauen. Möglich ist es. Die EU-Kommission hat jedenfalls Pläne für weitergehende Reformen. Ob und in welcher Form ein EU-weiter Verteilschlüssel kommt, ist heute jedoch ungewiss. Sie kennen die politischen Widerstände in den Mitgliedstaaten. Einzelne EU-Staaten wollen gegenwärtig nichts wissen von mehr Europa in der Asylpolitik. Stattdessen setzen sie auf Abschottung und mehr Grenzzäune, womit sie Probleme nicht lösen, sondern nur verlagern.

Unterschiedliche Standards

Was die Dublin-Staaten unterscheidet, ist aber nicht nur ihre geografische Lage. Auch die Asylverfahren, die Unterbringung der Migranten und sogar die Anerkennungsquoten sind bis heute je nach Mitgliedstaat unterschiedlich. Asylsuchende aus Afghanistan zum Beispiel erhalten in Dänemark in drei von zehn Fällen Asyl. In Österreich dagegen liegt die Schutzquote für Afghanen bei fast 80 Prozent. In welchem der beiden Staaten würden Sie als Afghane Ihr Asylgesuch stellen?

Und wenn in einem Land auch Asylverfahren von chancenlosen Gesuchen viermal so lange dauern wie in einem anderen, würden Sie Ihr chancenloses Asylgesuch dann nicht auch eher dort stellen, wo Sie wenigstens noch vier Jahre bleiben können?

Schliesslich ist auch die Rückkehrpolitik innerhalb der Dublin-Staaten nicht einheitlich. Die einen vollziehen konsequent, die anderen kaum.

Auf den Punkt gebracht: Die grossen Unterschiede innerhalb der verschiedenen Dublin-Staaten führen zu Fehlanreizen und zu Binnenmigration; dies wiederum belastet das ganze System. Vor allem aber sind diese Unterschiede schädlich für die Glaubwürdigkeit des gesamten Asylsystems.

Deshalb komme ich zum Schluss, dass unser Asylsystem für die EU ein Vorbild sein könnte.

Die EU braucht mehr Schweiz.

Denn bei uns macht es keinen Unterschied, ob ein Migrant sein Asylgesuch an der Südgrenze in Chiasso oder im Osten in Kreuzlingen stellt. Seine Chancen sind die gleichen. Sein Verfahren dauert gleich lang. Und wir haben auch einheitliche Standards, was Unterkunft und finanzielle Unterstützung anbelangt. Und auch im Vollzug sind wir daran, grössere Unterschiede zwischen den Kantonen abzubauen.

Das heisst: Wir haben nicht nur einen Verteilschlüssel. Wir haben auch die Standards harmonisiert. Und darum funktioniert das System im internationalen Vergleich so gut.

Ursachen der Migration

In der europäischen Flüchtlingspolitik gibt es dringenden Handlungsbedarf - die Schweiz kann mit ihrem Modell einiges bieten, das sich auf Europa übertragen liesse, nämlich: Solidarität und Konsequenz. Das ist die Basis für eine glaubwürdige Asylpolitik.

Doch das allein genügt nicht. Wir müssen auch die Ursachen der Migration angehen. Denn wir haben es ein Stück weit selber in der Hand, ob Menschen in ihrer Herkunftsregion bleiben - wenn sie zum Beispiel wegen Krieg aus ihrem Land in einen Nachbarstaat fliehen müssen - oder ob sie Richtung Europa aufbrechen.

Hierfür müssen wir den Menschen aber eine Wahl geben. Heute haben sie diese Wahl zu oft nicht. Oder glauben Sie ernsthaft, jemand riskiert mit einer Überfahrt auf einem Schlepperboot das Leben seiner Kinder, wenn er für diese daheim eine Zukunft sieht? Ich glaube nicht. Das macht nur, wer für sich oder für seine Familie keine Perspektive sieht.

Das haben mir auch Gespräche gezeigt, die ich im vergangenen Herbst mit jungen Tamilen im Norden Sri Lankas geführt habe. Die Schweiz unterstützt dort eine Berufsschule, die jungen Einheimischen eine Art Lehre ermöglicht. Einige, die so eine Ausbildung erhalten haben, haben mir bei meinem Besuch gesagt: "Jetzt habe ich einen Beruf gelernt, jetzt möchte ich hier bleiben." Warum? Ganz einfach: Die Jungen sehen jetzt eine Zukunft in ihrer Heimat.

In unserem Projekt in Sri Lanka spiegelt sich im Kleinen, was auch fürs grosse Ganze gilt: Die Ursachen der Migration haben auch mit uns etwas zu tun - vielleicht mehr, als uns lieb ist. Das Positive daran ist: Wenden wir uns den Ursachen der Migration zu, können wir sie auch mit beeinflussen.

Ich möchte das anhand von zwei Zahlen illustrieren.

Die erste lautet 1000 Milliarden Dollar - und sie macht deutlich, dass Finanzplatz und Migration konkret etwas miteinander zu tun haben.

Denn es gibt Schätzungen, wonach allein im Jahr 2013 über 1000 Milliarden Dollar auf illegale Weise aus Entwicklungs- und Schwellenländern abgeflossen sind. Wie sollen diese Länder vom Fleck kommen, wo bleiben die Mittel für die Bildung, das Gesundheitswesen, die Infrastrukturen, wenn Gelder in solchem Ausmass jährlich illegal das Land verlassen? Auf dem Finanzplatz Schweiz wollen wir deshalb keine solchen Gelder mehr. Das hat der Bundesrat deutlich zum Ausdruck gebracht.

Damit komme ich zur zweiten Zahl. Sie lautet 70 Prozent. 70 Prozent der Menschen, die von extremer Armut betroffen sind, leben in reichen Staaten - nämlich in rohstoff-reichen Staaten.

Dieser Widerspruch kann uns nicht gleichgültig sein. Denn zahlreiche Rohstofffirmen haben ihren Sitz in der Schweiz. Für den Bundesrat ergibt sich daraus eine besondere Verantwortung. Deshalb wollen wir die Rohstoffbranche stärker regulieren. Wir haben im Rahmen des Aktienrechts vorgesehen, dass Rohstoffförderer Zahlungen an staatliche Stellen im Ausland offenlegen sollen. Das ist ein nicht unwichtiger Beitrag zur Korruptionsbekämpfung in rohstoffreichen Ländern. Die lokale Bevölkerung soll dadurch ihre eigenen Behörden besser kontrollieren können, die Korruption bekämpfen und illegale Geldabflüsse verhindern. Wenn das Geld im Land bleibt und für die Entwicklung investiert wird, ist dies auch ein Beitrag gegen die unfreiwillige Migration.

Solche Zusammenhänge gehören für mich dazu, wenn wir über Migration reden. Es genügt eben nicht, bei der Migrationspolitik nur von Grenzzäunen, Schnellverfahren und Verteilschlüssel zu reden. Migrationspolitik geht auch weiter als die Hilfe vor Ort und die Entwicklungszusammenarbeit. Migration hat auch mit unserem Geldwäscherei-Dispositiv zu tun. Und mit der Reform des Aktienrechts.

Nur wenn wir diese Zusammenhänge nicht ausblenden, können wir die Migration nicht nur verwalten, sondern auch ihre Ursachen angehen.

Meine Damen und Herren,

Migration ist eine der zentralen Herausforderungen der Gegenwart. Die Schweiz ist heute im Asylbereich sehr gut aufgestellt. Das verdanken wir auch Ihnen, geschätzte Vertreterinnen und Vertreter der Kantone und unserer intensiven und konstruktiven Zusammenarbeit. Dafür danke ich Ihnen von Herzen - und freue mich, denn auch in diesem Jahr wartet viel Arbeit auf uns alle.


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