Kein Opfer darf vergessen gehen

Bern, 08.09.2017 - Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga an der Fachtagung "25 Jahre Opferhilfe in der Schweiz".

Sehr geehrte Damen und Herren 

Vor bald 25 Jahren haben zehntausend Frauen - und auch etliche Männer - vor dem Bundeshaus für die Wahl einer Bundesrätin demonstriert.
Ihr Engagement hat sich gelohnt. Mit Ruth Dreifuss wurde 1993 eine Frau in den Bundesrat gewählt.
Gelohnt hat sich 1993 auch ein anderes Engagement der Zivilgesellschaft. Ich meine den jahrelangen Einsatz für eine bessere Opferhilfe, der 1993 zum Opferhilfegesetz führte.

Die dramatische Situation, in der sich Gewaltopfer befinden, habe ich im Haus für geschlagene Frauen in Fribourg selber gesehen. Ich habe dort als junge Frau während mehreren Jahren Nachtdienst geleistet. Diese Zeit, die Begegnung mit den Frauen und ihren Kindern, hat mich bis heute geprägt. Sie hat mir vor Augen geführt, dass die Gesellschaft - und damit auch die Politik - hier eine zentrale Verantwortung trägt.

Diese Zeit hat mich aber auch dafür sensibilisiert, dass die grösste Gefahr für Frauen und Kinder nicht in der Unterführung oder im Wald lauert, sondern zuhause - in den eigenen vier Wänden.
Vier von fünf sexuellen Übergriffen gegen Kinder finden in der Familie und ihrem Umfeld statt.

Von den 25 Frauen, die letztes Jahr in unserem Land getötet wurden, sind 18 durch häusliche Gewalt gestorben.
Das ist unhaltbar. Und es ist eine unbequeme Tatsache für all jene, die den Täter lieber als bösen, fremden Mann beschreiben, denn als Familienvater, Ehegatte oder Freund.

Als Bundesrätin, die für diese Fragen zuständig ist, musste man mich also hier nicht zuerst für das Thema sensibilisieren. Im Gegenteil: Seit Jahren gehört die Bekämpfung - vor allem aber die Verhinderung - von körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt zu meinen wichtigsten Aufgaben.
Deshalb gehe ich gegen Zwangsheiraten und Genitalverstümmlungen vor.

Auch die Ratifizierung der Istanbul-Konvention gegen Gewalt an Frauen und Mädchen ist mir ein grosses Anliegen gewesen. Mir ist wichtig, dass sich die Schweiz auch international engagiert. Gewalt macht bekanntlich an Landesgrenzen nicht halt. Das zeigt sich ja auch bei einem der schlimmsten Verbrechen der Gegenwart, dem Menschenhandel.

Menschenhandel ist eine moderne Form der Sklaverei, oft verbunden mit Zwangsprostitution. Die Demütigungen, die unzählige Frauen Tag für Tag erleben, dürfen wir nicht hinnehmen. Vor fünf Jahren haben wir deshalb in der Schweiz den ersten Nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel lanciert.

Seither suchen wir zusammen mit den Kantonen laufend nach Möglichkeiten, die Situation der Betroffenen zu verbessern. Eine ganz konkrete Massnahme, die wir umgesetzt haben, ist der Zeugenschutz. Damit wollen wir den Betroffenen helfen, aus ihrem für uns oft unsichtbaren Gefängnis auszubrechen.

Schlimmes erleben hierzulande auch viele Kinder. Noch nie haben die Spitäler so viele Misshandlungen festgestellt wie 2016. Fast die Hälfte der gemeldeten Kindesmisshandlungen betrifft Kinder unter sechs Jahren, rund ein Viertel war jünger als zwei.
Der Bundesrat will darum die Prävention stärken. Angestellte von Kinderkrippen, die Hinweise auf Missbrauch und Misshandlung sehen, sollen dies melden müssen.

Warum verschiedene Parlamentarier das ablehnen, ist mir - ganz offen gesagt - schleierhaft. Denn ihr Widerstand ist nichts anderes als Täterschutz.

Besserer Schutz vor häuslicher Gewalt

All diese Massnahmen genügen aber nicht.
Wir müssen mehr tun, gerade im Bereich der häuslichen Gewalt. Allein im vergangenen Jahr sind rund 17'000 Straftaten im häuslichen Bereich polizeilich registriert worden.
Diese Zahl ist zu hoch.
Deshalb möchte ich dem Bundesrat in den kommenden Wochen verschiedene Instrumente zum Schutz der Betroffenen beantragen.

Neu regeln möchte ich zum Beispiel die Einstellung von Strafverfahren, bei denen es um häusliche Gewalt geht. Heute ist es oft so, dass Frauen von ihrem Peiniger unter Druck gesetzt werden, das Strafverfahren zu stoppen. Das soll es künftig nicht mehr geben. Eine Staatsanwältin darf das Verfahren nur noch einstellen, wenn dies dem Opfer wirklich hilft.

Verbesserungen braucht es auch beim Bedrohungsmanagement.
Viele Frauen sind über Jahre in einer Spirale aus Gewalt und Erniedrigung gefangen, die tödlich enden kann. Wir müssen deshalb versuchen, die Gewalt so früh wie möglich zu erkennen. Nur so können wir rechtzeitig einschreiten.
Dafür brauchen wir ein wirksames Bedrohungsmanagement.

Wirksam heisst: Die involvierten Stellen müssen sich gegenseitig austauschen und gemeinsam vorgehen. Es nützt nichts, wenn ein Gericht weiss, dass eine Frau geschlagen wird, diese Information aber nie zur Polizei gelangt.

Ansetzen müssen wir schliesslich beim Schutz vor Stalking: Neu sollen Annäherungs- oder Kontaktverbote mit einer elektronischen Fussfessel überwacht werden. So verringern wir die Beweisschwierigkeiten, mit denen viele Betroffene zurzeit konfrontiert sind.

Die Bedeutung des Opferhilfegesetzes

Nun wissen wir alle, dass sich Gewalt auch mit den besten Massnahmen nicht vollständig verhindern lässt.

Prävention ist wichtig. Genauso wichtig ist es aber, dass wir die Opfer nicht allein lassen, wenn die Prävention vergebens war. Und genau deshalb hat das Opferhilfegesetz auch nach 25 Jahren nichts von seiner Bedeutung verloren.
Dank dem Gesetz erhalten die Betroffenen Beratung, Unterstützung und finanzielle Hilfe.

Selbstverständlich ist kein Gesetz perfekt. Kritik und Verbesserungsvorschläge am geltenden System sind deshalb nicht nur nötig, sondern erwünscht. Wir blicken heute nicht nur auf 25 Jahre Praxis zurück, sondern wir schauen, was wir in den nächsten 25 Jahren besser machen können.

Meine Damen und Herren
Es gibt in diesem Land immer noch Leute, die behaupten, wir würden die Opfer links liegen lassen.
Sie alle beweisen mit Ihrer Arbeit, dass das nicht stimmt. Sie kennen die Menschen, deren Schicksale sich hinter den Zahlen der Opferhilfestatistik verbergen, und Sie kümmern sich um sie.
Ihr täglicher Ansporn bei der Arbeit bestimmt auch meine Politik: Kein Opfer darf vergessen gehen.

Auch darum habe ich mich für eine Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eingesetzt. Und ich weiss, dass Sie - das heisst die kantonalen Opferhilfestellen - bei diesem Prozess eine wichtige Rolle gespielt haben.

Es mir deshalb ein Anliegen, Ihnen für Ihren Einsatz in einem schwierigen Umfeld zu danken. Ihre Arbeit ist für die Betroffenen, aber auch für unsere Gesellschaft, von grösstem Wert.

 


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