Dank den Frauen

Bern, 10.11.2018 - Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga in Olten an der Feier zum 100. Jahrestag des Landesstreiks. Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Frauen,
Liebe Männer,

Am Anfang waren die Frauen.
Die Frauen arbeiteten. Sie mussten die Männer ersetzen, die man an die Grenzen geschickt hatte.
Sie rannten hin und her zwischen Küche und Fabrik. Es fehlte an allem. Sie wussten kaum mehr, wie sie ihre Kinder ernähren sollten - so stark waren die Lebensmittelpreise gestiegen.

Und dann haben die Frauen entschieden: so geht das nicht mehr weiter.

Sie organisierten die erste internationale Friedenskonferenz in der Schweiz während des Krieges.
Sie organisierten die grossen Hungerdemonstrationen. Das war noch vor dem Generalstreik.
Sie wehrten sich lautstark, kippten Gemüsestände um auf den Marktplätzen und forderten tiefere Preise.

Dann, im November 1918, stand die Schweiz drei Tage lang still.

Doch die Frauen rannten immer noch. Sie rannten zum Streik und sie rannten, um die Streikenden zu verköstigen; sie rannten von Kneipe zu Kneipe, um das Komitee zu unterstützen; denn dieses hatte den Alkohol verboten, um Gewalt zu verhindern.
Die Frauen kümmerten sich um die Kinder, brachten sie ausserhalb der Stadt - denn die Kinder mussten geschützt werden: vor der Spanischen Grippe und vor den bedrohlichen Gewehren.

Und dann: Hat jemand den Frauen dafür gedankt? Nein.

Zwar war das Frauenstimmrecht ganz oben gewesen auf der Liste der Streikforderungen. Doch dann verschwand das Anliegen von der männlichen Bildfläche.

Es brauchte mehrere Generationen von Frauen, die sich gegen Diskriminierung und Ausgrenzung und gegen das Laufgitter wehrten.

Von Rosa Bloch bis Emilie Lieberherr: Sie alle haben den Widerständen getrotzt.
Sie haben dem Nein, Nein und nochmals Nein zum Frauenstimmrecht in den Kantonen getrotzt.
Sie haben der schallenden Ohrfeige von 1959 getrotzt, als die Mehrheit der Schweizer Männer wieder Nein gesagt hat. Nein gesagt zu einem Menschenrecht, das ihren Frauen, ihren Müttern, ihren Schwestern und ihren Töchtern zusteht.

Doch diese gaben nicht auf. Zu Tausenden marschierten sie 1969 nach Bern. Um zu sagen, was sie verlangten: Der Bundesrat soll die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnen, aber erst wenn die Frauen das Stimmrecht erhalten.

Rote Rosen und Nelken für das lange Warten

Zwei Jahre später ist es endlich so weit. Die Schweiz wird zu dem, was man eine Demokratie nennen kann: die weibliche Bevölkerung ist nicht länger politisch unmündig.
Die ersten Parlamentarierinnen dürfen ins Haus, ins Bundeshaus. Dort empfängt man sie mit roten Rosen und Nelken. Wir sind im Jahr 1971. 53 Jahre nach dem Generalstreik.

Und heute?
Heute haben wir das Stimm- und Wahlrecht für Frauen - doch in der Realität ist die Gleichstellung noch immer nicht angekommen.

Als ich in den Bundesrat gewählt wurde, waren wir vier Frauen, eine Frauenmehrheit. Diese - für Schweizer Verhältnisse - verrückte Zeit dauerte 14 Monate.
Dann war's vorbei. Heute sind wir zwei.
- und viele finden, zwei sei doch eigentlich genug.

Unser Land hat in Sachen Gleichstellung jahrzehntelange Verspätung.

Deshalb müssen wir noch heute dafür kämpfen, dass Frauen nicht weniger verdienen als Männer, nur, weil sie eine Frau sind.
Und wir müssen täglich einfordern, dass Macht und Verantwortung zwischen Frauen und Männern gerecht verteilt wird.
Und dass sogenannte Frauenberufe anständig bezahlt werden.

Die Verspätung haben wir noch längst nicht aufgeholt.

Doch ohne die mutigen Frauen von damals, vor 100 Jahren, wären wir nicht hier.
Ihnen - den Frauen und Männern von damals - bin ich unendlich dankbar.

Dankbar bin ich auch all den Frauen, die während dieser 100 Jahre gekämpft haben.
Gekämpft für unsere Rechte und für die Gleichstellung.
Gekämpft für eine friedliche Welt, eine gerechtere Welt.

Und danken möchte ich euch, euch allen, Frauen und Männer, für euer Engagement.

Wir brauchen euch,
wir brauchen einander,
wir sind noch lange nicht am Ziel.


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