"Der Bundesrat will nur soviel Zuwanderung wie nötig"

Bern, 26.08.2020 - Informationsveranstaltung zur Begrenzungsinitiative in Chur; Bundesrätin Karin Keller-Sutter - es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Nationalrätin,
Sehr geehrter Herr Nationalrat,
Sehr geehrter Herr Grossrat,
Sehr geehrte Damen und Herren


Ich danke Ihnen für die Einladung. Es ist mir eine grosse Freude, heute Abend hier in Chur sprechen zu können. Ein Abend, der unter einem speziellen Stern steht:

Die Coronakrise hat auch die Schweiz hart getroffen. Derzeit steigen die Fallzahlen wieder, das Virus ist noch da und die Krise ist noch nicht vorbei. Das ist für uns alle, speziell aber für die Schweizer Wirtschaft eine grosse Belastung - die Herausforderungen sind gross, die Unsicherheit ebenfalls.

Dazu kommt, dass uns in weniger als fünf Wochen europa- und wirtschaftspolitisch die entscheidende Weichenstellung bevorsteht: Wir stimmen über die Begrenzungsinitiative der SVP ab. Für die Schweiz ist das eine sehr wichtige Abstimmung. Wieso?

Konkret verlangt die Initiative vom Bundesrat, das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU innerhalb von zwölf Monaten auf dem Verhandlungsweg ausser Kraft zu setzen oder - falls keine einvernehmliche Lösung erzielt werden kann - das Abkommen innert weiteren 30 Tagen einseitig zu kündigen.

Nun ist die Personenfreizügigkeit eine der vier Grundfreiheiten des EU-Binnenmarkts - für die EU etwa so wichtig, wie für uns in der Schweiz die Neutralität. Auch deshalb ist das Freizügigkeitsabkommen mit der sogenannten Guillotine-Klausel an die übrigen sechs Abkommen der Bilateralen I gekoppelt. Diese Guillotine war kein Wunsch der Schweiz, wurde aber damals beim Abschluss der Bilateralen I so akzeptiert und gutgeheissen.

Wer nun glaubt, die EU würde mit der Schweiz einvernehmlich den Ausstieg aus der Personenfreizügigkeit verhandeln und vereinbaren, ohne den Rest des bilateralen Wegs aufzugeben, der verkennt die jüngere Geschichte. Die Erfahrungen rund um die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative haben das deutlich gezeigt: Die Tür der EU blieb für Verhandlungen ganz einfach zu.

Das ist also eine Realität und wir sollten als wirtschaftlich stark vernetztes Land eine solch waghalsige Wette nicht eingehen.

Zusammenfassend heisst das: Falls die Begrenzungsinitiative angenommen würde, und die Schweiz das FZA kündigen müsste, würden alle Verträge der Bilateralen I nach weiteren sechs Monaten automatisch ausser Kraft treten. Es würde also nicht nur die Personenfreizügigkeit wegfallen - der bewährte bilaterale Weg der Schweiz als Ganzes wäre akut gefährdet und die stabilen Beziehungen zur wichtigsten Partnerin der Schweiz in Frage gestellt.

Das Resultat wäre jahrelange politische, rechtliche und wirtschaftliche Unsicherheit. Wollen wir das?

Angesichts dieser gravierenden Konsequenzen lohnt es sich, einen kurzen Blick auf den bilateralen Weg zu werfen:

Die Schweiz hat sich weder für eine EU-Mitgliedschaft, noch für den Europäischen Wirtschaftraum EWR entschieden, sondern für bilaterale Verträge. Und zwar eigenständig.

Am Anfang war 1972 das Freihandelsabkommen. Dieses wurde in mehreren Etappen zu einem immer dichteren Netz von Abkommen geknüpft. Die Ablehnung des EWR-Beitritts am 6. Dezember 1992 führte zu den Verhandlungen und schliesslich zum Abschluss der beiden Vertragspakete Bilaterale I und II.

Es ist uns gelungen, Abkommen mit der EU abzuschliessen, die speziell auf die Schweiz zugeschnitten sind und die unsere Interessen weit umfassender wahren, als dies beispielsweise mit einem Freihandelsabkommen möglich wäre. Mit diesem bilateralen Weg hat die Schweiz im Verhältnis zur EU die bestmögliche Lösung gefunden: Einen hindernisfreien Zugang zum EU-Binnenmarkt in vielen Bereichen, zugeschnitten speziell auf die Schweiz. Dieser Bilaterale Weg wurde zudem in Abstimmungen mehrmals von der Bevölkerung bestätigt. Er ist auch heute der einzig mehrheitsfähige Weg. Die Bilateralen, das ist der eigenständige, selbstgewählte Weg der Schweiz.

Von dieser Politik profitiert die Schweizer Wirtschaft und damit auch die Menschen in der Schweiz. Unsere Volkswirtschaft, insbesondere der Industriesektor, ist stark international orientiert. Deshalb sind die schweizerischen Unternehmen auch in Zukunft auf den weitgehend ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt angewiesen. Ich spreche das nicht nur von den grossen Unternehmen. Die KMU sind das Fundament unserer Wirtschaft. Und gerade sie wären bei einem Ja zur Begrenzungsinitiative stark betroffen, negativ betroffen: Denn zwei Drittel der KMU in der Schweiz sind international tätig und jedes Dritte KMU erwirtschaftet mehr als 50% des Umsatzes mit Exporten ins Ausland.

Das zeigt sich übrigens auch bei den Arbeitskräften: Drei von vier Personen in der Schweiz arbeiten in Unternehmen, für die der internationale Handel eine Rolle spielt.

Gerne sage ich Ihnen dazu auch noch eine Zahl: Der gesamte wirtschaftliche Austausch zwischen der Schweiz und der EU beträgt 1 Milliarde Euro - pro Arbeitstag. Man muss jetzt kein Experte sein um zu verstehen, dass stabile und geregelte Beziehungen absolut entscheidend sind, damit das so bleibt.

Die Initiative gibt vor, die Zuwanderung zu begrenzen. Nur: Sie sagt nicht wie und die Initianten sagen selber, dass die Wirtschaft weiterhin die nötigen Arbeitskräfte im Ausland rekrutieren können soll. Die Arbeitszuwanderung in die Schweiz war schon immer konjunkturabhängig. Daran würde auch eine Annahme der Initiative nichts ändern. Wir müssen uns deshalb fragen, ob wir das Risiko einer Kündigung der Personenfreizügigkeit und damit den automatischen Wegfall der Bilateralen I eingehen wollen, wenn wir das Ziel, das die Initiative vorgibt, gar nicht erreichen.

Ich möchte aber klar betonen: Der Bundesrat will nur so viel Zuwanderung wie nötig. Und der Bundesrat hat die Personenfreizügigkeit seit ihrer Einführung immer sozial flankiert. Damit die Löhne und die Arbeitsbedingungen in der Schweiz nicht unter Druck geraten, wurden die flankierenden Massnahmen eingeführt, mit denen die Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Schweiz kontrolliert werden. Damit verhindern wir Lohndumping und stellen sicher, dass unser einheimisches Gewerbe gleich lange Spiesse hat.

Bislang gibt es auch kaum Hinweise, dass einheimische Arbeitskräfte wegen der Personenfreizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt durch ausländische Arbeitskräfte verdrängt wurden. Die Arbeitskräfte aus der EU und der EFTA dienen als Ergänzung. Es gibt Branchen, die Spezialisten suchen, die sie in der Schweiz nicht finden. Dann gibt es Stellen, die kaum mit Schweizerinnen und Schweizern besetzt werden können. Dies gilt z.B. für die Landwirtschaft oder das Gastgewerbe. Und auch das Gesundheitswesen ist auf ausländisches Personal angewiesen. Gerade während der Corona-Krise waren wir sehr dankbar, dass die Grenzgänger in der Romandie oder auch im Tessin weiter in den Schweizer Spitälern arbeiten konnten.

Der Bundesrat setzt aber auch alles daran, dass inländische Arbeitskräfte konkurrenzfähig bleiben.

Wir haben deshalb zahlreiche Massnahmen ergriffen, so zum Beispiel will der BR ältere Arbeitskräfte stärken: sie sollen auf dem Arbeitsmarkt bleiben, oder so schnell wie möglich wieder den Weg zurückfinden, wenn sie die Stelle verlieren. Eine Stellenmeldepflicht erhöht die Chancen von Stellensuchenden in der Schweiz. Für ausgesteuerte Arbeitslose über 60 Jahre hat das Parlament überdies eine Überbrückungsleistung beschlossen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft zunehmend älter wird. Der Anteil der Personen im Pensionsalter steigt, die geburtenstarken Jahrgänge der 60er-Jahre - die sogenannten Babyboomer - gehen bald in Pension. Insgesamt erreichen in den nächsten zehn Jahren etwa eine Million Menschen das Rentenalter. Oder anders gesagt: In den kommenden Jahren gehen etwa 250'000 Personen mehr in Rente, als neu ins Erwerbsleben einsteigen. Es fehlen also rund 25'000 Arbeitskräfte pro Jahr. Das spüren wir schon heute, qualifizierte Arbeitskräfte werden hierzulande zunehmend knapp.

Und das ist nicht nur bei uns so: Andere Länder in Europa haben vergleichbare Entwicklungen und auch dort zeichnen sich Personalengpässe in Schlüsselbranchen ab.

In dieser Situation schlägt die Begrenzungsinitiative vor, die Schweiz vom europäischen Markt der Arbeitskräfte abzukoppeln. Das ist nicht sehr hilfreich.

Denn mit der zunehmenden Überalterung der Gesellschaft werden Zuwanderer künftig noch stärker dazu beitragen, dass wir unseren Wohlstand und unser Rentenniveau halten können.

Meine Damen und Herren,

die Initiative löst kein einziges Problem, stürzt die Schweiz aber in zusätzliche Schwierigkeiten. Die Zuwanderung zum Arbeitsmarkt ist konjunkturabhängig. Eine Kündigung der Personenfreizügigkeit ist deshalb ein Wagnis für unseren Wohlstand und unsere Arbeitsplätze.

Dazu kommt, ich habe es zu Beginn gesagt: Die Schweiz ist durch die Corona-Krise hart getroffen worden. Wir konnten es in den letzten Wochen verschiedentlich lesen, zahlreiche Unternehmen müssen in der Folge Arbeitsplätze abbauen.

Der Bundesrat setzt alles daran, dass sich die Wirtschaft so rasch wie möglich wieder erholen kann. Das ist nicht der Moment, um Experimente zu riskieren und die guten Beziehungen zu unserer wichtigsten Handelspartnerin aufs Spiel zu setzten. Der bilaterale Weg ist ein wichtiger Pfeiler unserer Wettbewerbsfähigkeit. Und der praktisch hindernisfreie Zugang zum Binnenmarkt der EU ist ein Trumpf, den wir gerade in der Krise nicht aus der Hand geben sollten.

Der Wohlstand der Schweiz ist nicht zuletzt auf den bilateralen Weg mit der EU zurückzuführen.

Um rasch wieder in die ausgezeichnete Situation zurückzufinden, in der sich die Schweizer Volkswirtschaft vor der Corona-Krise befand, brauchen unsere Unternehmen jetzt stabile Beziehungen mit der EU, Rechtssicherheit und wirtschaftliche Perspektiven - das sind gerade in diesen Zeiten wichtige Voraussetzungen für unseren Wohlstand und unsere Arbeitsplätze. Die Begrenzungsinitiative gefährdet beides. Aus diesem Grund lehnen Bundesrat und Parlament die Initiative klar ab.

Ich danke Ihnen und freue mich auf eine angeregte Diskussion.

 


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