Swiss Press Award

Bern, 28.04.2021 - Swiss Press Award in Bern. Bundesrätin Karin Keller-Sutter - es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrte Medienschaffende
Sehr geehrte Damen und Herren

Ich freue mich sehr, heute im Rahmen des Swiss Press Award ein paar Worte an Sie richten zu dürfen. Dieser Preis unterstreicht die Bedeutung einer Branche, die unter vielfältigem Druck steht, aber für eine Demokratie unersetzlich ist. Und dass der Preis in Bern verliehen wird, verweist auf eine spezielle Bedeutung dieser Stadt für den Medienhaushalt der Schweiz: Sie ist nicht nur das bundespolitische Machtzentrum der Schweiz, sie ist auch eine Vermittlerin zwischen den Landesteilen. Es ist darum folgerichtig, dass der Swiss Press Award Journalistinnen und Journalisten und Fotografinnen und Fotografen aus allen vier Sprachregionen der Schweiz auszeichnet.

Als Bundesrätin ist man ja täglich mit der Arbeit der Medien konfrontiert. Wird das mediale Grundrauschen zwischendurch einmal schwächer, geht es mir allerdings nicht so wie den Probanden in einem Experiment des amerikanischen Psychologen Timothy Wilson. Dieser platzierte vor einigen Jahren Männer und Frauen unterschiedlichen Alters in einem schmucklosen Raum einzeln auf Stühlen. Einschlafen wie herumgehen war ebenso verboten wie lesen oder schreiben. Einzige Möglichkeit der Ablenkung bestand im Drücken eines Knopfs, wodurch ein kleiner Elektroschock ausgelöst wurde. Wie sich zeigte, wählten zwei Drittel der männlichen Probanden und jede vierte Probandin von Zeit zu Zeit den Schmerz, um der Leere und dem Nichtstun zu entgehen. Die Langeweile, das Alleinsein mit seinen Gedanken, war sogar schlechter auszuhalten als ein negativer Impuls.

Das war 2014. Heute haben wir das Smartphone. Und Social Media. Müssen wir fünf Minuten auf das Tram warten, greifen wir zum Handy und zerstreuen uns mit News und Social Media. Sie sind nur ein Click entfernt - und dazu meist noch gratis. Wir lassen uns von bunten und bewegten Bildern, von zugespitzten Schlagzeilen und steilen Thesen verführen - und oft erscheinen uns Nachrichten und Posts umso attraktiver, je mehr sie uns in unserer Meinung, in unseren Urteilen und Vorurteilen bestätigen. Zumindest auf den ersten Blick - oder eben: Click. Wir kennen das alle: Es ist das berühmte Vermeiden von kognitiver Dissonanz. Es ist eine Art geistige Gemütlichkeit, gegen die wir stets ankämpfen müssen. Man nennt es heute Neudeutsch auch Bubble.

Was kommt dabei zu kurz? Das, was man vielleicht etwas altmodisch Information und Analyse nennt.

Or ce qui m'intéresse, en tant que conseillère fédérale, c'est la transmission d'informations. Je considère que ma tâche est d'identifier des problèmes, de les résoudre, et de trouver des compromis à cette fin. Dans notre système suisse de démocratie directe, le Conseil fédéral a tout particulièrement besoin d'échanges réguliers avec les citoyennes et les citoyens. Et ces échanges, c'est principalement dans les médias qu'ils ont lieu. Les médias informent, mais pas seulement : Ils vérifient les informations, les mettent en perspective - et permettent ainsi une orientation dans un monde de plus en plus complexe. Ils expriment aussi des opinions, mais de préférence séparément des faits.

Ist ein solches Berufsverständnis heute noch attraktiv? Ist es von den Medienhäusern überhaupt noch gefragt? Wie können sich Medienschaffende dem Reiz zur Emotionalisierung, zur Personalisierung, zur Polarisierung entziehen? Und: Können sie es sich überhaupt leisten, da nicht mitzuziehen? Das sind Fragen, die nicht ich als Bundesrätin zu beantworten habe, sondern die Branche.

Unbestritten ist: Die Social-Media-Plattformen und unsere neuen Konsumgewohnheiten sind eine grosse Herausforderung für die klassischen Medien. Auch sie müssen Reize schaffen, um unsere flüchtige Aufmerksamkeit zu gewinnen und im Wettbewerb um die Clicks zu bestehen.

Im Kleinen zeigt sich das - etwas überspitzt formuliert - darin, dass jedes Dokument, das von der Bundesverwaltung erstellt wurde, zum Geheimpapier mutiert. Die Absprache wird zur Verschwörung, die Panne zum Skandal, die Meinungsverschiedenheit zum Zerwürfnis.

Im Grossen zeigt es Folgen für die Auswahl und Gewichtung von Themen. Was Emotionen weckt, was polarisiert, was Reaktionen provoziert, steigt in der Gunst. Dann schafft es sogar das Schicksal einer entlaufenen Katze plötzlich in die Topnews eines nationalen Newsportals!

Nun lese ich als ehemalige Hundebesitzerin auch gerne Tiergeschichten - und ich werde auch nicht in einen Abgesang auf die Medien einstimmen. Aber ich bedaure, wenn die Berichterstattung über die institutionelle Politik, die kritische, aber sachliche Auseinandersetzung mit politischen Fragen und Ideen im Kampf um die Aufmerksamkeit den Kürzeren zieht. Ich bedaure es aus einer institutionellen Perspektive. Weil so die Kenntnis und das Verständnis in der Bevölkerung abnimmt, wie unsere Institutionen funktionieren, und warum Bundesrat und Parlament so handeln, wie sie handeln. Denn so wichtig unabhängige Medien und auch die Medienvielfalt für die Demokratie sind, so wichtig sind die politischen Institutionen für das Funktionieren unseres politischen Systems.

Gentili Signore e Signori,

viviamo in un mondo in cui siamo costantemente sommersi non solo da stimoli ma in particolare anche da opinioni, e gli uni hanno naturalmente a che fare con le altre. Quando si tratta di opinioni, pareri o punti di vista, comunque, gli animi si surriscaldano immediatamente.

Der Ton - längst nicht nur in den Medien! - ist schriller geworden. Wer einen anderen Standpunkt vertritt, sagt nicht die Wahrheit. Oder er sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, moralische - oder auch andere - Defizite zu haben. Stichwort: Diktator. Das Motto lautet, um den Titel eines viel diskutierten Buchs zu zitieren: Empört euch!

Das passt zu einer neuen Theorie, wonach der moderne Journalismus Bekenntnisjournalismus sein müsse. Haltung ist gefragt - Haltung statt Distanzhalten. Wer einfach einmal informieren möchte, wer als Journalistin oder Journalist sagt, dass sowohl der eine als auch der andere Lösungsvorschlag seine Meriten habe, gilt dann plötzlich als "Neutralitätsfanatiker" oder als "moralisch indifferent". Oder eben als "Langweiler". Gilt aber das Bekenntnis mehr als die Erkenntnis, muss man sich mit dem Andersdenkenden gar nicht mehr auseinandersetzen. Würde man es tun, käme man ja vielleicht zum Schluss, dass nicht alles falsch ist, was er sagt. Das bedingt, dass man bereit ist, sich mit den Fakten auseinanderzusetzen und nicht nur die andere, sondern auch die eigene Position ständig zu hinterfragen. Nur so gelangt man zu neuen Erkenntnissen.

Ich ziehe den Erkenntnisjournalismus dem Bekenntnisjournalismus vor.

Geschätzte Medienschaffende,

Die institutionelle Politik mag zuweilen etwas langweilig sein. Aber die Welt ist manchmal etwas langweilig. Denken hingegen kann anstrengend und ungemütlich sein, weshalb sich ja die Probanden im Experiment des amerikanischen Wissenschaftlers auch lieber einem Elektroschock aussetzten. Aber wenn man nicht dauernd abgelenkt ist und sich zu Tode amüsiert, um auf ein Schlagwort des Kommunikationswissenschaftlers Neil Postman anzuspielen, dann kann man in solchen Momenten auch klüger werden.

Es wird ja erzählt, dass der Physiker und Mathematiker Isaac Newton vermutlich im Jahr 1665 etwas gelangweilt im Garten seines Elternhauses unter einem Apfelbaum sass, als plötzlich ein Apfel zu Boden fiel. Newton fragte sich, weshalb Äpfel immer senkrecht fallen und nicht seitwärts oder aufwärts. Und erklärte sich das Phänomen damit, dass die Erde wohl über eine Anziehungskraft verfüge. So soll Newton die Gravitationstheorie entdeckt haben.

Was für ein Erkenntnisgewinn für die Menschheit!

Liebe Medienschaffende,

Sie haben einen wunderbaren und einen sehr verantwortungsvollen Beruf. Die Gegenwart ist herausfordernd, aber ich bin überzeugt: Sie haben eine Zukunft. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen: Halten Sie die Ohren steif - und beobachten Sie doch hin und wieder, wie die Äpfel fallen!

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


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