Ein blaues Klavier gegen die Verrohung der Welt

Bern, 26.10.2006 - Else-Lasker-Schüler floh vor der Herrschaft der Nazis in die Schweiz. In ihrem berühmtesten Gedicht "Mein blaues Klavier" beklagte sie die Verrohung der Welt. Es gibt auch heute Anzeichen politischer Verrohung. Die Kultur muss der Verrohung deutlich entgegen treten... - Rede anlässlich der Eröffnung Else-Lasker-Schüler-Forum

„Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.

Es steht im Dunkel der Kellertür
Seitdem die Welt verrohte“.

Vor 69 Jahren wurde das Gedicht „ Mein blaues Klavier“ erstmals veröffentlicht, hier in Zürich, in der NZZ. In einem Brief an einen Freund schrieb Frau Lasker, nicht alle Leser der Neuen Zürcher Zeitung hätten mit dem Gedicht „etwas anfangen“ können.

„Etwas anfangen“, das ist ganz wörtlich zu nehmen: Ein Gedicht, ein Kunstwerk setzt beim Leser, beim Betrachter oder Hörer den Anfang eigener Gefühle, eigener Gedanken, weiterer Assoziationen.

Ein blaues Klavier und seine Noten können vieles bewirken. Und das ist der Grund, dass blaue Klaviere immer wieder in den Keller verbannt werden und dass nur die Noten der Kellermeister zugelassen werden.

Else-Lasker-Schüler hatte Deutschland verlassen, noch bevor Klaviere zertrümmert und Menschen aus den Wohnungen gezerrt wurden. Die Verrohung der Welt, die sie in ihrem Gedicht beklagt, hatte sich schon lange vorher angekündigt und bestätigte sich 1938 in einem Augenzeugenbericht aus Köln:

„Die Mozartstrasse und das umgebende Viertel, in dem viele Juden wohnten, glich einem Schlachtfeld. Hier hatte man die Möbel der Juden kurz und klein gehauen und die Trümmer auf die Strasse geworfen, sogar Klaviere und Flügel. Fussgänger schauten nicht hin, aus Scham, aus Wut, aus Ohnmacht“.

Scham und Ohnmacht gegenüber der Verrohung entstehen dann, wenn wir uns nicht rechtzeitig gegen sie erheben. Wann beginnt die Verrohung? Was ist die Verrohung?

  • Antisemitismus ist Verrohung:
    Frau Lasker war eine deutsche Dichterin und sie war eine jüdische Dichterin. 1932 hatte sie eine der höchsten literarischen Auszeichnungen Deutschlands, den Kleist-Preis erhalten und eine Zeitung kommentierte: „Wir meinen, dass die rein hebräische Poesie der Else Lasker-Schüler uns Deutsche gar nichts angeht“.
  • Ausgrenzung ist Verrohung:
    Keine anderen Töne hören die gemeinsame Geschichte leugnen, auseinander reissen, was gemeinsam existiert hat. Auf einmal darf es das nicht mehr geben: eine jüdische deutsche Dichterin. Die Gemeinsamkeit wird geleugnet, es wird aufgeteilt in hier die deutsche Kultur, da die jüdische Kultur.
  • Die Sprache des „Entweder-Oder“ ist Verrohung:
    Wer dominieren will, „teilt und herrscht“. Die Zwischentöne verschwinden, es gibt nur noch Schwarz und Weiss, Gut und Böse, Freund und Feind.
  • Die Verachtung anderer Religionen ist Verrohung:
    Ein Schokoladenminarett zu verschlingen ist nicht lustig, sondern roh. Ein Wettbewerb über Mohammedkarikaturen im dänischen Ferienlager ist nicht lustig, sondern roh. Ein Wettbewerb über Holocaustkarikaturen in einer iranischen Zeitung ist roh.
  • Häme und Hohn sind nicht Humor, sie sind Verrohung, Ausdruck von Hass und Verachtung. Zynismus in Schrift und Bild zerstört den Humor. Stirbt der Humor, stirbt auch die Toleranz.  
  • Zensur ist Verrohung:
    In einer Erklärung vom 16. August klagt der iranische Schriftstellerverband über Zensur von Film, Theater, Literatur und Presse, die Filterung von Internet-Seiten und die Konfiskation von Parabolantennen. Es sei im Iran eine eigentliche Kulturrevolution gegen alles Aufklärerische und gegen alle Versuche eines Dialoges mit anderen Kulturen im Gange.
  • Knebelung der Kritik ist Verrohung:
    In Moskau wurde am 7. Oktober die Journalistin Anna Politkowskaja erschossen.
  • Rassismus ist Verrohung, und damit die Verdrängung und Leugnung dessen, was geschehen ist, die Verharmlosung also von Massenmord, Genozid und Krieg.

Wie hiess der Augenzeugenbericht von 1938?

„…Zertrümmerte Klaviere und Flügel auf der Strassen und Fussgänger schauten nicht hin, aus Scham, aus Wut, aus Ohnmacht.“

Scham und Ohnmacht gegenüber der Verrohung entstehen dann, wenn wir uns nicht rechtzeitig dagegen erheben. Die Anfänge der Verrohung wollen wir erkennen und ihnen entgegen treten, damit das blaue Klavier nicht  in das Dunkel des Kellers verbannt wird.
Das Auseinanderleben von Juden und Christen erlebte Frau Lasker-Schüler als persönliche Tragödie und historische Katastrophe. Sie schrieb:

„Gäbe es heute noch Judenchristen, wäre das eine Brücke zwischen Juden und Christen.“

Judenchristen in einem Wort! Dieser Begriff hat zwar eine lange Geschichte, trotzdem erschien er als eine kühne Wortkombination. Denn Else Lasker-Schüler brauchte das Wort „Judenchristen“ in einem Moment, als die beiden Kulturen völlig am Auseinanderbrechen waren.

Ja, wir können auch heute „etwas anfangen“ mit dieser Wortkombination und gelangen unwillkürlich zum Wort Moslemchristen oder Christenmoslems, die eine Brücke zwischen Islam und Christentum bilden.

Es gibt diese Brücken des Dialoges zwischen Religionen und Kulturen.

Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk sagt:

„Das Bild von Ost und West und ihrem Zusammenstoss ist eine der gefährlichsten Ideen der letzten zwanzig Jahre“.

Für ihn entsteht Kultur aus der Vermischung und der Verbindung vieler Einflüsse.

  • Es gibt sie, die Noten für das Klavier gegen die Verrohung.
    Es gab und gibt viele Menschen, die kulturelle Gräben zu überwinden suchen, mit  Erfolg. Es gibt diese Menschen auch heute, und mehr denn je: Nie gab es mehr persönlichen Austausch zwischen Religionen und Kulturen, noch nie gab es wahrscheinlich so viele Mischehen. Nie zuvor wurde mehr gereist, noch nie gab es einen so breiten Austausch von Meinungen über alle Kontinente hinweg. Der Dialog der Kulturen findet tagtäglich statt, ganz gewöhnlich, pragmatisch und unaufgeregt.
  • Die Töne der Kultur und Differenzierung müssen deutlich sein.
    Damit das blaue Klavier ertönt, sollen wir auch zu den  Noten stehen, die wir spielen wollen. Denn zum Dialog der Kulturen gehört auch, zu seinen eigenen Werten zu stehen. Eine Opernvorstellung abzusagen aus Angst, sie könnte jemanden provozieren, fördert den Dialog der Kulturen nicht. Wir schwächen damit nicht nur unsere eigene Kultur. Wir schwächen auch die dialogbereiten Kräfte in der muslimischen Welt, wenn wir uns nur noch nach ihren extremen Exponenten richten.
  • Diese Noten und Töne sind nicht immer die lautesten und die gefälligsten. Selten werden sie Ohrwürmer und kommen in die Hitparaden.
    Ein blaues Klavier fordert uns oft heraus, das gehört zu seinen Aufgaben. Es kann im wahrsten Sinn des Wortes zu einer Zu-Mutung werden. Wir brauchen seine Zumutungen, um nicht den Mut zu verlieren, um nicht eines Tages vor Scham und Ohnmacht wegsehen zu müssen.

Ich sage das hier im Zürcher Schauspielhaus, wo während des Zweiten Weltkrieges Künstler im Exil und Schweizer Künstler gemeinsam und erfolgreich für das freie Wort kämpften.

Das blaue Klavier steht nicht im Dunkel der Kellertür. Es steht in unserer Wohnung, mit allen seinen Tasten und Zwischentönen. Dass es hier steht, verpflichtet uns, es zu nutzen. Wir müssen mit ihm „etwas anfangen“. Wir müssen auf ihm spielen.

Ich freue mich auf das folgende Spiel.


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