Solothurner Filmtage

Solothurn, 24.01.2019 - Rede von Bundesrat Alain Berset anlässlich der 54. Solothurner Filmtage. Es gilt das gesprochene Wort.

Wir alle neigen heute dazu, wahre News als fake abzutun, wenn sie nicht genau unseren Erwartungen entsprechen. Hier eine News, die so erfreulich ist, dass man sie kaum glauben mag: Eine amerikanische Studie hat untersucht, ob Filme mit Hauptdarstellern oder mit Hauptdarstellerinnen in den Jahren 2014 bis 2017 an der Kinokasse erfolgreicher waren. Und siehe da! Jene mit Frauen in den Hauptrollen waren kommerziell erfolgreicher, zum ersten Mal in der Geschichte Hollywoods. Was natürlich noch nichts über die Qualität der Rollen aussagt. Auch in der Schweiz ist der Trend positiv: 2018 wurden gleich viele Spielfilme mit weiblicher Regie wie mit männlicher Regie gefördert.

Diese Fortschritte sind umso erfreulicher, weil der Film - ob gestreamt oder im Kino - auch im frühen 21. Jahrhundert das Leitmedium unseres Selbstverständnisses bleibt. Und unser Leben prägt - vielleicht mehr als manche politischen Diskurse.

Der Film zeigt uns, wer wir sind, zu sein glauben, sein wollen. Er führt uns vor Augen, worauf wir hoffen und wovor wir uns fürchten. Er lotet - im besten Falle - jene «terra incognita» zwischen echter Bedrohung und wohlig apokalyptischem Schauern aus, wo sich weltanschauliche Überzeugungen bilden und verfestigen, um schliesslich politikmächtig zu werden.

Der Film zeigt, was uns beglückt und wonach wir streben. Wonach wir glauben, streben zu müssen, damit wir glücklich werden, als Individuen, aber auch als Gesellschaft. Und er lässt uns am Leben von Menschen teilhaben, die sich für eine bessere Welt einsetzen - auch und gerade, wenn es sich „nur" um deren eigenen Mikrokosmos handelt.

Das Medium Film ist von anhaltender Relevanz. Vor diesem Hintergrund ist es aufschlussreich, was wir seit einigen Jahren im Schweizer Filmschaffen erleben: nämlich eine neue Ernsthaftigkeit, was Thema und Tonalität angeht.

Die grossen politischen Fragen der Gegenwart werden offensiv angepackt: Das Thema Migration in «Eldorado», der die Schweiz an den Oscars vertreten hat. Das Thema Krieg in «Chris the Swiss». Der Klimawandel und das Verhältnis des Menschen zur Umwelt und Reproduktions- phantasien in «Genesis 2.0». Fragen der weiblichen Sexualität und die religiös verbrämten Geschlechter-Stereotypen in «#Female Pleasure». Die Entfremdung in der Arbeitswelt in «Ceux qui travaillent.»

Was macht einen Film politisch? Dass wir uns als Akteure erkannt und aufgerufen fühlen - und nicht als reine Voyeure bedient und abgefertigt. Dass nie die Gewissheit aufkommt, dass wir einfach andere beim Leben beobachten. Sondern stets der Verdacht im Raum schwebt, dass jene, denen wir zuschauen, vielleicht eben doch wir selber sind. Ja, wir alle sind eben auch ein bisschen - oder mehr als ein bisschen - wie alle anderen.

Das muss man narzisstisch natürlich erst einmal verdauen. Nicht ganz einfach in einer Zeit, in der jede und jeder eine Marke ist, die an ihrem Alleinstellungsmerkmal arbeitet. In der die Anzahl «Likes» das Mass aller Dinge zu werden droht. Aber gerade deshalb ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass wir alle aufeinander angewiesen sind.

Wir sind alle Teil einer Gesellschaft, an deren Auseinanderdriften niemand ein Interesse haben kann - auch nicht die Starken. Wir alle sind Teil einer Zivilisation, die ihre ganze zivilisatorische Kraft brauchen wird, um Klima und Umwelt zu schützen. Wir alle sind Teil eines Kontinents, der seine Position sucht unter den grossen Machtblöcken dieser Welt. Wir sind alle Teil einer demokratischen Kultur, die auf verlässliche Informationen angewiesen ist - und die sich doch immer wieder verwirren lässt durch raffinierte Narrative, die als übergeordnete Wahrheiten paradieren.

Und nicht zuletzt sind wir alle Teil eines Landes, das sich daran gewöhnt hat, von den grossen Wirrnissen und Verwerfungen der Weltgeschichte verschont zu bleiben. Und das heute zur Kenntnis nehmen muss, dass es von vielen Entwicklungen mindestens ebenso betroffen ist wie andere Ländern. Dass wir mittendrin sind: Mitten in Europa: wirtschaftlich, gesellschaftlich, kulturell. Mitten im Prozess der Globalisierung: Wir sind das globalisierteste Land der Welt. Mitten in der Migrationsthematik: Wir haben eine der höchsten Einwanderungsquoten der Welt. Mitten in den drohenden Handelskriegen und in der bröckelnden internationalen Ordnung.

Gewiss: Alle Staaten sind heute - mehr oder weniger - international verflochten. Aber gerade die Schweiz profitierte über Jahrzehnte überdurchschnittlich von Rechtssicherheit und Stabilität auf internationaler Ebene. Wir sind daher nicht weniger betroffen von diesen beunruhigenden Entwicklungen - sondern stärker als andere. Kurz: Der politische Ernst ist zurück - und das nicht nur im Schweizer Film.

Das Selbstverständliche - Stabilität, Wohlstand, Sicherheit - scheint uns heute nicht mehr ganz selbstverständlich. Und vielleicht hat das ja auch sein Gutes. Wenn man die Verunsicherung zulässt, und sie auch bei anderen spürt, dann beginnt man sich für die Voraussetzungen der Verhältnisse zu interessieren. Paradoxerweise ist also ein Gefühl der Überforderung, wie viele Menschen es in der Konfrontation mit der Gegenwart spüren, ein idealer Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Politik.

Die Welt ist nicht nur brüchiger geworden - sondern, und das zeigt sich in diesen politischeren Filmen - auch ergebnisoffener. Die Alternativlosigkeit wird gegenwärtig als das entlarvt, was sie ist: Denkfaulheit, Phantasielosigkeit, Kleinmut.

In dieser unübersichtlicheren, aber auch formbareren Welt lohnt es sich wieder nachzudenken, sich zu engagieren. Wir erleben eine Phase der Verunsicherung - ob es eine Phase der produktiven Verunsicherung wird, liegt an uns. Der wieder olitischere Schweizer Film trägt jedenfalls dazu bei. Der Film als Medium des Befragens - und nicht als Medium der schnellen Antworten. Als Medium, das unser Bewusstsein verändert - unterschwellig, aber umso tiefgreifender.

Die produktive Verunsicherung macht uns einfallsreich, kreativ, lässt uns in Szenarien denken. Eine Gegenwart, die wieder drängende politische Fragen stellt, zwingt uns dazu, auch wieder politischere Antworten zu geben.

Insofern ist die Erkenntnis, dass es künftig instabiler wird, als wir es gewohnt sind, ein wichtiger Beitrag dazu, dass es stabiler bleibt, als wir befürchten.


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