Zusammen mit den Anderen sich selbst bleiben

Bern, 22.01.2018 - Rede von Bundesrätin Doris Leuthard 22. Januar 2018, Kloster Fahr

Es gilt das gesprochene Wort! 

Sehr geehrte Priorin Irene

Sehr geehrter Herr Abt Urban

Sehr geehrter Herr Bischof Felix

Sehr geehrter Vertreterinnen und Vertreter der Klostergemeinschaften Fahr und Einsiedeln

Sehr geehrte Herren Regierungsräte

Sehr geehrte Damen und Herren aus den Wirkungsbereich des Klosters

Meine Damen und Herren

„Wenn wir uns jeden Tag einen Moment Zeit nehmen, um mit Gott zu schweigen, bewahren wir unsere Seele (…) vor den (…) Banalitäten des Konsums und vor der Betäubung durch die Werbung, vor der Verbreitung leerer Worte und den beunruhigenden Wogen des Klatsches und des Lärms.“

Man könnte fast denken, Papst Franziskus hätte in seiner Neujahrspredigt in diesem Jahr das Kloster Fahr umschrieben. Ich gratuliere Priorin Irene, Abt Urban und den Mitschwestern im Kloster Fahr zu diesem grossen Jubiläum. Während bei Unternehmen eine 100-Jahr-Feier bereits eine stattliche Zahl ist, feiern wir beim Kloster Fahr ganze 888 Jahre.

Weshalb ist das Kloster über Jahrhunderte hinweg so faszinierend?

  • Weil Menschen es als Kraftort erleben.
  • Weil viele hier Einkehr bei Gott finden.
  • Und: Weil man hier Stille in einer hektischen Welt erlebt.

Dabei musste sich das Kloster – umgeben von Andersartigkeit – besonders behaupten.

  • Auf Aargauer Boden umgeben von Zürich.
  • Katholisch umgeben von reformiertem Land.
  • Zum Bistum Basel gehörig umgeben vom Bistum Chur.
  • Still umgeben vom Lärm einer Weltstadt.

Das Kloster und die Benediktinerinnen behaupten sich, weil sie sich selber bleiben und dennoch mit dieser anderen Welt zusammenarbeiten, ohne Angst, neugierig – ohne sich verbiegen zu lassen. Fast so, wie die Schweiz.

Das Frauenkloster produziert und exportiert im Namen des Herrn Kleider für die Herren – zum Glück auch für immer mehr Frauen – der Kirche.

Das Kloster betreibt erfolgreich Landwirtschaft – und sagt den kräftigen Männer von ausserhalb wo es lang geht.

Das Kloster ist Herberge für Gäste  - in den Gästezimmern des Klosters, in Seminarräumen und im Restaurant „Zu den zwei Raben“.

Die Geschichte des Klosters Fahr zeigt, dass Frauen schon im 12. Jahrhundert Verantwortung im kleinen Stil übernommen haben. In der politischen Welt ist das heute nicht anders. Wenn man uns lässt, würden wir selbstverständlich mehr Verantwortung übernehmen.

Was können wir daraus lernen?

Erstens: Wir bleiben uns selbst, auch wenn wir mit dem Anderen zusammenarbeiten. Die Auseinandersetzung mit Menschen ist Bereicherung, regt zu neuen Gedanken an, ermöglicht andere Lebenserfahrungen kennenzulernen, weil der kulturelle, religiöse oder gesellschaftliche Hintergrund anders ist – egal ob dies nun Flüchtlinge auf der Suche nach Schutz, Zuwanderer auf der Suche nach besserer Arbeit, Wissenschaftler auf der Suche nach Neuem sind.

Zweitens: Sich abschotten lohnt nicht. Wir müssen andere Staaten nicht lieben. Aber wir sollten unseren Nachbarn auch nicht die Türe vor der Nase zuschlagen oder die EU zum Feind der Schweiz hochzustilisieren. Schliesslich sind die Benediktinerinnen hier ja auch nicht männerfeindlich – sie schicken die Männer nur einfach nach Einsiedeln.

Drittens: Wir Schweizer ticken vielleicht anders. Aber auch mit vier Amtssprachen, einem vielleicht komplizierten direktdemokratischen System, mit einer starken Rücksichtnahme auf Minderheiten und einer flächendeckenden Grundversorgung, mit einer Mentalität bestehend aus Abwägen und Langsamkeit sind wir zu weltmeisterlichen Höchstleistungen in Forschung, Innovation und Wirtschaft fähig.

Ich weiss: In einer Welt der Un-Ruhe, der Gewalt, der Unsicherheiten ist Orientierung nicht leicht. Wo Staaten zerfallen und Menschen wie Treibgut an fremden Küsten stranden. Wo der Terror das Vakuum füllt. Und was tun wir in der Glückseligkeit der Schweiz? Wir zelebrieren politische Leadership und Fachkompetenz wortreich im verbalen Kleinkrieg um 70 Franken mehr AHV-Rente oder einen Franken pro Tag für Radio und Fernsehen. Vom wirklich Wichtigen lassen wir tunlichst die Finger – mit Ausreden. Wir und das Klima? Sollen doch die Anderen! Wir und die Flüchtlinge? Sollen wieder dorthin, wo sie herkommen!

Es scheint, als spalte sich derzeit die Menschheit – in die Rationalen und in die Fundamentalen. Warum tun wir uns das an? Warum finden wir keine Gemeinsamkeiten? Ja, die Welt ist komplex. Es gibt Konflikte. Nicht alle profitieren von der Globalisierung. Viele Reiche sind noch reicher geworden. In vielen Staaten haben Junge keine Arbeit und keine Perspektiven. Das alles zu lösen ist schwierig. Aber mit Gewalt, Unterdrückung und Parolen ist es nicht getan. Gemeinsam vernetzt, indem alle Verantwortung übernehmen – so hat man eine Chance.

„Die verschlossene Familie, die verschlossene Pfarrgemeinde, das verschlossene Land, all das kommt von uns und hat nichts mit Gott zu tun“, hat Papst Franziskus 2015 in seinem Angelus-Gebet auf dem Petersplatz in Rom völlig zu Recht festgehalten. Deshalb sind wir es, die in allen Fragen des Lebens handeln müssen. Politikerinnen, Unternehmer, jeder und jede Einzelne müssen ihr Tun verantworten – auch ihr Nicht-Tun. Die Politik darf nicht zur Talkshow verkommen. Unternehmer und Unternehmerinnen sind für die Wertschöpfung zuständig; aber auch für die Wertschätzung Ihrer Mitarbeitenden. Der Einzelne ist für Respekt und Anstand im Umgang mit dem Anderen persönlich verantwortlich.

Ich predige hier keiner speziellen Religion das Wort. Aber der Glaube – egal welcher – kann uns Leitplanke sein. Und Stille kann uns zu neuen Einsichten verhelfen. Natürlich ist Austausch wichtig; auch auf allen Kanälen der sozialen Medien. Aber Kommunikation funktioniert auch lautlos – mit einem Blick oder einer Geste. Sie hier im Kloster Fahr erleben das etwa am Mittagstisch, wo man sich nicht gegenseitig anschweigt, sondern in gemeinsamer Stille gesammelt ist. Viele könnten in der benediktinischen Spiritualität, der klösterlichen Struktur und der Stille in der hektischen Zeit zur Besinnung – und vielleicht zu einem neuen Ansatz finden.

Dass das möglich ist, hat Ihre geachtete Schwester Hedwig – Silja Walter – hier im Kloster bewiesen. Zum 80. Geburtstag hat sie sich an den Computer und zum 90igsten ins Internet gewagt. Ohne Angst. Mit grosser Neugierde.

Das zeigt: Die Benediktinerinnen bewahren ihre Werte an diesem Ort der Stille, öffnen sich gleichzeitig und sichern so die Existenz des Klosters.

Wie in der Politik: Um die Werte einer Gesellschaft, eines Staats zu erhalten und diesen Staat gleichzeitig vorwärts zu bringen, braucht es den Kompromiss.

  • Der interne Krampf zwischen den Parteien um den Umgang mit den europäischen Nachbarn bringt keine Lösung.
  • Der sture Widerstand einzelner Meinungsmacher gegen den Schutz des Klimas hilft der Erde nicht.
  • Das erstarrte Seilziehen um die Stabilität der Sozialwerke bringt keine Lösung.

Was dem Kloster Fahr seit Jahrhunderten gelingt, gelingt auch auf der weltlichen Eben – wenn wir die Herausforderungen ohne Angst anpacken und dem Anderen mit grosser Neugierde begegnen.

Ich danke Ihnen allen, der Gemeinschaft der Benediktinerinnen, dem Verein Kloster Fahr, die Politikern hier an diesem Festanlass und jedem Einzelnen dafür, wenn jeder und jede – egal in welcher Funktion und auf welchem Posten – für die Menschen da sind.

Die Bedeutung des christlichen Menschenbildes liegt nicht daran, dass man dieses durch Leistung beweisen muss, sondern dass dieses allein mit dem Dasein vorhanden ist.   


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