Wer entscheidet, muss zuhören!

Bern, 01.08.2016 - Rede von Bundesrätin Doris Leuthard zum Nationalfeiertag, 1. August 2016, Stadt Schaffhausen

(Es gilt das gesprochene Wort) 


Sehr geehrter Herr Regierungspräsident (Reto Dubach)
Sehr geehrter Herr Stadtpräsident (Peter Neukomm)
Sehr geehrter Herr Schilling (Präsident NHG-SH)
Liebe Schaffhauserinnen und Schaffhauser
Liebe Gäste

Ich freue mich, heute in Schaffhausen mit Ihnen den Geburtstag der Schweiz zu feiern.
Ich danke der Neuen Helvetischen Gesellschaft für die freundliche Einladung und der Stadt für den herzlichen Empfang.

Eigentlich ist es ja eine Schande!
168 Jahre Bundesstaat - und noch nie ein Bundesrat am 1. August in Schaffhausen.

Dabei ist Schaffhausen landesweit bekannt:

  • der Rheinfall - als sichtbar intakte Natur,
  • der Munot - mit seinem unverstellten Rundum-Blick in die Ferne,
  • ihre Wirtschaft - die mit dem Slogan wirbt „welcome to Zurich, a pretty little suburb of Schaffhausen"
  • oder, wie sich Dieter Wiesmann ausdrückte: e chliini Stadt (...) wo sich's guet lääbe loot."

Ja, bei uns lässt es sich gut leben. Wie gut, wurde einem wieder einmal bewusst in den vergangenen Wochen, als bei unseren Nachbarn unzählige, unschuldige Menschen ihr Leben lassen mussten durch gewaltsame Anschläge. Auch wir sind nicht unverletzbar. Auch wir sind nicht gefeit vor solchen perfiden Anschlägen.

Der Bundesrat misst daher der Sicherheit der Bevölkerung höchste Bedeutung bei. Wir müssen in der Verbrechensbekämpfung, im Aufgreifen terroristischer Strukturen eng mit anderen Staaten kooperieren. Kein Land kann heute allein, umfassend und wirksam seine Sicherheit garantieren. Was wir tun können und tun müssen ist, unserer Freiheit, unsere Werte verteidigen.

Was bringt einen Menschen dazu, sich derart ausserhalb jeder Norm zu verhalten und sinnlos zu töten, als vermeintlicher Heilsbringer aufzutreten, sich terroristischen Organisationen anzuschliessen? Es ist beelendend, unbegreiflich und sowieso unentschuldbar. Was wir tun können ist aber, an der Erfolgsgeschichte Schweiz weiter zu arbeiten. Jugendlichen eine gute Ausbildung zu ermöglichen, eine friedliche Gesellschaft zu bleiben, den Menschen Jobs und Perspektiven zu ermöglichen, Lebensqualität zu bieten.

Die Schweiz hat nur 0,12% der Weltbevölkerung, nur 0,003% der Landmasse der Erde. Aber wir belegen den 1. Platz in der Rangliste der wettbewerbsfähigsten Länder. Wir stehen auf Platz 4 im Vergleich der friedlichsten Nationen. Wir sind auf Platz 19 in der Weltwirtschaft und unsere Staatsfinanzen stimmen. Wir haben es zu Ansehen und Wohlstand gebracht. Darauf lässt sich bauen.

Offensichtlich haben wir in den vergangenen Jahrzehnten vieles richtig gemacht. Pragmatisch, realistisch haben wir die Zukunft unseres Landes gezimmert.

  • Wir haben die Unabhängigkeit des Landes und unsere Freiheit sowie die humanitären Traditionen bewahrt.
  • Wir haben eines der weltbesten Bildungssysteme als Voraussetzung für Arbeitsplätze und einen starken Werkplatz mit tiefer Arbeitslosigkeit geschaffen.
  • Wir haben eine Verkehrspolitik und eine Raumplanung aufgegleist, die dem Land und den Menschen zu Gute kommt.
  • Wir lassen mit der föderalen Struktur und der direkten Demokratie die Bürger an der Entwicklung partizipieren und vermeiden Machtballung.

Natürlich - die Welt im 21. Jahrhundert ist kein Streichelzoo. Der globale Wettbewerb um Wachstum, Investitionen und Wohlstand wird härter. Wir müssen uns weiter entwickeln. Und hier können wir von Schaffhausen lernen.

Als Grenzkanton steht euer Gewerbe seit jeher im Wettbewerb mit den Kollegen in Jestetten. Der Euro-Frankenkurs beeinflusst seit langem, auf welche Seite der Tank - und der Einkaufstourismus kippt. Grenzgänger hier, Bauern auf deutschen Äckern - sie sorgen ab und zu für Diskussionen. Aber ihr lebt das Miteinander vor. Ihr lebt Anpassungsfähigkeit und sucht neue Chancen, neue Nischen für euch. Ihr macht das gut!

So wie ihr mit euren Nachbarn Lösungen findet, so muss auch der Bundesrat mit dem grossen Nachbarn EU Lösungen finden. Beide wissen, dass wir nicht um Kooperation herumkommen. Jeder verteidigt seine Prinzipien und seine Interessen. Aber niemand sucht den Konflikt. Gemeinsam ist das Interesse die Handelsbeziehungen zu festigen und nicht zu schwächen. Mit Pragmatismus und Respekt geht es.

Unsere Schweiz wird auch in anderen Bereichen wichtige Entscheide zu fällen haben:

  • Mit tiefen Löhnen oder billigen Boden können wir nicht punkten. Aber mit attraktiven steuerlichen Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen (USR III). Das ist für den Standort zentral.
  • Unsere Gesellschaft verändert sich. Wir brauchen eine Rentenreform 2020 für ein gerechtes Rentensystem, das auch den jungen Menschen Aussicht gibt auf eine Absicherung im Alter.
  • Menschen werden weiter zu uns kommen. Hunger, Gewalt, Kriege, Umweltprobleme, keine Arbeit - zu gross sind die Diskrepanzen zwischen Arm und Reich; Süden und Norden. Es braucht eine konsequente (und umfassende) Migrations- und Entwicklungspolitik.
  • Die Digitalisierung wird alle Wirtschaftsbranchen und auch unsere Gesellschaft verändern. Die Chancen sind grösser als die Risiken, sie zu realisieren ist wichtig.

Sich auf Neues einzulassen, ist nicht einfach. Meistens zieht der Mensch das ihm Bekannte vor. Mit Angst oder Ablehnung von Neuem können wir uns aber nicht weiter entwickeln, ebenso wenig wie damit, jedem neuen Trend gleich nachzueifern. Die Schweiz ist stark, weil sie offen ist, weil man bei uns diskutiert, einander zuhört, Vor- und Nachteile abwägt, nach den überzeugendsten Argumenten sucht, weil man langfristig denkt. Simple Rezepte gibt es nicht. Dafür sind die Menschen zu vielfältig, die Welt zu komplex.

Wer entscheidet, muss zuhören, muss sich informieren. Das ist in unsicheren Zeiten noch schwieriger. Der Empörungsdemokrat findet schneller Applaus. Um unser Land weiterhin auf Kurs zu halten, brauchen wir Vertrauen. Vertrauen in uns selber, Vertrauen in die Stärke der direkten Demokratie, Vertrauen in unsere Institutionen.

Wenn Politiker statt das Gemeinwohl eigene Interessen verfolgen, wenn Richter ihre Unabhängigkeit verlieren, wenn Medien zensuriert werden, wenn Manager betrügen oder sich bereichern, wenn die Verwaltung korrupt ist, wenn eine Regierung angeblich im Namen des Volkes autoritär, repressiv handelt, dann wird es gefährlich. Wird solches Verhalten geduldet und nicht klar verurteilt und sanktioniert so verliert der Bürger zurecht sein Vertrauen in den Rechtsstaat.

Wir tun gut daran, unser Vertrauen in demokratischen Institutionen, in die Gewaltentrennung zu stärken. Die Achtung der Menschenrechte, die Gleichberechtigung der Frauen, der respektvolle Umgang mit Minderheiten, mit Kindern und ihren Rechten, mit politischen Parteien und freien Medien - das sind die Messlatten für den Reifegrad einer Gesellschaft.

Der Bundesrat hofft auf Ihr Vertrauen. Er weiss aber auch: verändern kann er nicht allein. Dazu braucht er Sie, die Menschen in diesem Land, die Schaffhauserinnen und Schaffhauser.

Dazu braucht es Menschen, die mit offenen, kritischen Augen durchs Leben gehen. Euch hier in Schaffhausen ist es in Stein gemeisselt:

        „Lappi tue d'Augen uf" (Spruch des Kunstmalers Arnold Oechslin, seit 1935 am Schlussstein des nördlichen Torbogens).

 Lappis sehe ich keine. Aber viele Menschen mit wachen Augen.

Schauen wir für die künftigen Generationen in die Ferne. Erkennen wir die Chancen. Dann bleiben wir in einer globalisierten, digitalisierten Welt eine offene Gesellschaft mit den helvetischen Tugenden von Konsens und Kompromiss. Dann können wir traditionelle Werte bewahren und gleichzeitig veraltete Strukturen anpassen.

Stehen wir zusammen, hören wir einander zu und diskutieren miteinander. Haben wir Vertrauen in unsere Stärken.

Für „es chliises Land (...) wo sech guet läbe loot".

Ich wünsche Ihnen einen schönen ersten August!


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