Gekommen, um zu bleiben

(Letzte Änderung 05.02.2016)

Bern, 17.01.2016 - Rede von Bundespräsident Johann N. Schneider-Ammann, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF 150 Jahre Gleichberechtigung

Sehr geehrter Herr Präsident
Sehr geehrte Frau Alt Bundesrätin
Sehr geehrte Frau Botschafterin
Sehr geehrter Herr Botschafter
Sehr geehrte Vertreterinnen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur

Medames et Messieurs
Liebe Gäste

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Einladung zu dieser heutigen Feier. Es ist mir eine grosse Freude und Ehre, Ihnen die besten Glückwünsche des Bundesrates zu überbringen.

Ich habe mich sehr gefreut auf Ihre Fotoausstellung, die auf eindrückliche Weise die Vielfalt jüdischer Lebensentwürfe in der Schweiz zeigt. Und ich bin sehr gespannt auf das folgende Kulturprogramm, das allein schon vom Namen her vielversprechend tönt. Ja, die Schweiz wäre ohne ihre jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger nicht, was sie ist:

Ein starkes, kulturell vielfältiges, wirtschaftlich erfolgreiches und gesellschaftlich tolerantes Land. Die Schweiz ist schlicht ein Wunder, wie mir ein kürzlich ein europäischer Ministerkollege sagte.

Das zeigt sich ganz offensichtlich dort in der Kultur, wo die Leistungen jüdischer Kulturschaffender Teil unserer Schweizerischen Identität geworden sind. Das zeigt sich auch in der Wissenschaft mit mehreren Schweizer Nobelpreisträgern jüdischer Herkunft als eigentliche Speerspitzen.

En politique aussi, les femmes et les hommes de confession juive ont à maintes reprises joué un rôle déterminant.

Que ce soit dans la lutte pour les droits de la femme, comme syndicaliste puis conseillère fédérale, ou que ce soit comme intermédiaire, à une époque où nos banques, et donc l'ensemble du pays, étaient sous le feu d'une critique dure pour leur traitement des fonds en déshérence.

Und dann denke ich an die zahlreichen jüdischen Unternehmerinnen und Unternehmer, die mit Ihrem Einsatz, Ihrer Tatkraft, mit ihren Ideen und ihren Emotionen einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, dass die Schweizer Wirtschaft heute weltweit einen einzigartigen Ruf geniesst.

Ich habe bisher ganz bewusst auf Namen verzichtet, die Liste wäre zu lang und eine Auswahl wäre immer ungerecht. Aber einen Namen muss ich nennen.

Wo würden sich auswärtige Besucher unserer Bundesstadt mit Einheimischen verabreden, wenn nicht an der Loeb-Ecke? Sie sehen, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger haben unser Land in verschiedenster Hinsicht stark geprägt, ja sind sogar Treff-, Ausgangs- und Orientierungspunkt.

Sie haben die Schweiz deshalb so mitgeprägt, weil Sie gekommen sind, um zu bleiben, wie dies der SIG-Präsident kürzlich treffend formulierte. Kommen und bleiben. Das ist ein hoher Anspruch. Bleiben bedeutet, sich einbringen. Bleiben heisst, Position beziehen, sich Diskussionen zu stellen und sich damit auch angreifbar zu machen. Bleiben bedeutet vor allem auch: Verantwortung übernehmen.

Dass das nicht immer einfach gewesen ist und auch heute nicht immer einfach ist, liegt auf der Hand. Dieser Wille zu einer Integration, welche die Werte unseres Lands fraglos lebt, ohne dabei die eigene religiöse und kulturelle Identität aufzugeben, dieser Wille verdient grosse Anerkennung.

Wenn ich mich nun in Ihre Lage versetze und all diese Lobesworte höre, ich glaube, mich beschliche ein etwas seltsames Gefühl. Ich würde mich wohl fragen, will da jemand etwas von mir?

Lassen wir das: Wie heisst es doch so schön: Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Aber es ist klar: Man muss nicht mit besonders wachem Geist durch die Geschichte gehen, um zu sehen, dass die Integration der jüdisch-stämmigen in unserem Land alles andere als konfliktfrei verlief.

Vom Mittelalter wollen wir erst mal gar nicht reden.

Dass Sie aber explizit nicht gleichberechtigt waren in der ersten Bundesverfassung von 1848 zeigt doch deutlich, wie ambivalent das Verhältnis unserer Vorväter den Juden gegenüber war, die damals im Berner Einwohnerregister noch als Hebräer aufgeführt waren.

Es brauchte bekanntlich den Druck von aussen, dass am 14. Januar 1866, vor 150 Jahren, die Verfassung geändert wurde. Ohne die Androhungen von Handelsboykotten der Amerikaner, Engländer, Franzosen und Niederländer wäre wohl kaum etwas geschehen.

Dass Gleichberechtigung ein langer, manchmal zäher Prozess ist, zu dem auch Rückschläge gehören, zeigt sich auch später immer wieder. Erwähnenswert sind sicher das Schächtverbot von 1893 und vor allem die schwierigen Zeiten des zweiten Weltkrieges und des Holocausts.

Und auch heute, 150 Jahre nach der verfassungsmässigen Anerkennung, ist der Antisemitismus in unserem Land leider immer noch nicht vollständig überwunden. Bekanntlich machen weltweite Entwicklungen keinen Halt vor der Schweiz.

Es ist deshalb (gerade im Nachgang zu den schrecklichen Attentaten von Paris) nur zu verständlich, dass auch in der jüdischen Gemeinschaft das Bedürfnis nach besserem Schutz angestiegen ist.

Sie wissen, der Bundesrat hat Ende Jahr zusätzliche Massnahmen beschlossen, um die Sicherheit in unserem Land zu gewährleisten. Und eine Arbeitsgruppe mit Vertretern der jüdischen Gemeinschaft will Massnahmen ausarbeiten, wie jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger besser geschützt werden können.

Auch wenn wir es nicht gerne zugeben - unser Land hat sich mit der Einwanderung nie leicht getan. Weder bei den Juden, noch bei den Italienern, Spaniern und Portugiesen in den 60er-Jahren, noch bei den Menschen aus dem Balkan Ende des letzten Jahrhunderts.

Heute treffen und  betreffen Konflikte und Krisen, Terror, Flüchtlingsströme auch unser Land ganz direkt.

Mesdames et Messieurs,

Cet afflux de réfugiés le montre clairement : La mondialisation ne concerne pas seulement le commerce et les services, mais toujours plus aussi des humains. En tant que pays prospère au cœur de l'Europe, nous devons trouver, en concertation avec nos voisins, des réponses à ces questions.

Nous avons raison de faire notre possible pour que la situation s'améliore dans les régions de crise, afin que les gens ne soient pas obligés de fuir. Mais si leur intégrité physique est menacée au point qu'ils n'ont plus d'autre choix que de quitter leur pays, il est de notre devoir de leur prêter assistance.

Wenn diese neuen Einwanderer dem Beispiel der Juden folgen, wenn sie sich integrieren wollen, wenn also Einwanderer kommen, um zu bleiben, dann kann Einwanderung auch zum Gewinn werden. Ein kleines Land wie die Schweiz hat mindestens jenen nach Kräften Schutz zu gewähren, die echt an Leib und Leben bedroht sind.

Damit komme ich zum Schluss:

Wenn uns die Geschichte der jüdischen Emanzipation etwas gelernt hat, dann dies: Die Identität eines Landes verlangt nicht, dass alle Bürgerinnen und Bürger uniform sind. Viel wichtiger ist es, dass alle Menschen dieses Land als ihre Heimat empfinden können, ohne die eigenen Werte aufgeben zu müssen.

Allerdings steht ausser Frage, dass unsere demokratischen Regeln für alle die gleichen sind und von allen vollständig akzeptiert werden müssen. Das bedingt immer wieder Offenheit, Kompromissbereitschaft und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.

Diese Werte haben unser Land stark gemacht, tragen wir weiterhin Sorge zu ihnen und gehen wir die Zukunft gemeinsam und mit viel Mut und Zuversicht an.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Es gilt das gesprochene Wort!


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