1. August Ansprache 2015

Bern, 01.08.2015 - Bundesrätin Doris Leuthard in Ottenbach und Zurzach (es gilt das gesprochene Wort)

Liebe Bürgerinnen und Bürger
Liebe Nachbarn
Liebe Gäste

Der Weg der Schweiz war nicht immer einfach. Aber dieser Weg, den die Menschen in diesem Land, unsere Väter und Mütter, alle, die vor uns hier lebten, gemeinsam bewältigt haben, war sehr erfolgreich. Uns geht es so gut wie noch nie. Dabei hatten sie viele und schwierige Gratwanderungen zu meistern.

Einerseits, weil wir uns selber nicht immer einig waren. Es gab viele kleine Fehden. Andererseits mussten die Eidgenossen aber auch grosse Konflikte bestehen. Besonders deutlich sehen wir dies heute 2015, in einem Jahr, in dem wir uns an vier schicksalsträchtige, prägende Ereignisse erinnern.

  • 1315 am Morgarten und 1415 bei der Befreiung des Aargaus von den Habsburgern haben wir um unsere Freiheit gekämpft.
  • 1515 nach der Niederlage in Marignano mussten wir unsere eigenen Grenzen erkennen.
  • 1815 mit dem Wiener Kongress und später mit dem Pariser Frieden und der Anerkennung der Neutralität haben wir unseren politischen anerkannten Platz im Herzen des Kontinents gefunden.

Wir haben daraus gelernt: den Menschen ihre Freiheit zu gewährleisten, ihre Freiheitsrechte zu garantieren ist und bleibt auch in Zukunft eine wichtige Staatsaufgabe. Nach wie vor gibt es unzählige Staaten, wo diese Freiheitsrechte beschnitten sind, wo sie regelmässig verletzt werden.

Seine eigenen Grenzen zu kennen, ist wichtig. Man neigt sonst zur Überheblichkeit, oder man mutet sich oder anderen zu viel zu. Ebenso muss ein Staat seine Grenzen kennen, andere Staaten ebenso respektieren und sich nicht in schwierige Machtkämpfe verstricken. Leider erleben wir regelmässig Grossmachtgehabe, Übergriffe auf die Souveränität anderer Staaten etc. Das tut der Welt nicht gut.

Ebenso ist es mit dem Frieden. Die Menschen suchen Frieden und wollen in Friede leben. Aber jeden Abend wird uns vor Augen geführt, wo Konflikte wieder Menschenleben gefordert haben.

Vor diesem Hintergrund dürfen wir mit Stolz und Erleichterung unseren Nationalfeiertag begehen. Erleichtert, weil wir ein sicheres, friedliches Land sind und unsere Bürgerinnen von einem hohen Lebensstandard und gesicherten Rechten ausgehen können. Warum aber haben wir die Gratwanderungen in unserer Geschichte so erfolgreich bewältigt?

Selbstverständlich ist das nicht. Denn auf dem Grat zu bleiben, bedeutet dreierlei:

  • Erstens braucht man dazu eine gute Ausrüstung, Können und Erfahrung.
  • Zweitens braucht es auch ein Quäntchen Glück. Ein gläubiger Mensch wird sagen: Gnade. Glück oder Gnade: Es tut zuweilen gut, sich dessen, was man nicht selber beeinflussen kann, auch wieder bewusst zu sein.
  • Und drittens ist man ja nicht allein, man hat eine Seilschaft, in der alle mehr oder weniger am selben Strick ziehen sollten.

Unser Wohlstand – und ich meine dieses Wort nicht nur materiell, sondern ebenso institutionell, denn der Rechtsstaat gehört auch zum Wohlstand – er verpflichtet uns, jenen zu helfen, die weniger Glück gehabt haben. Denn unsere Stärke misst sich am Wohl der Schwachen. So steht es in der Bundesverfassung, wie sie von Volk und Ständen beschlossen wurde.

Das gilt auch im internationalen Kontext. Unser Land, die starke Schweiz, kann sich in freier Selbstbestimmung, aber im Bewusstsein ihrer humanitären Mission, durchaus etwas mehr in den Rucksack laden als andere. Das tun wir auch mit unserem Engagement bei der Entwicklungszusammenarbeit oder bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Bei der aktuellen Lage wird es erneut darum gehen, was wir uns zumuten und wo es zu viel wird, ob auch andere Staaten Hilfe anbieten und ob man nicht mit verbesserten Bedingungen vor Ort verhindern kann, dass Menschen ihre Heimat verlassen müssen oder für sich und ihre Kinder keine Zukunft mehr sehen dort. Wir alle kommen beim Anblick von so viel Elend schnell an unsere Grenzen. Wir wollen aber auch nicht ausgenützt werden. Denken wir immer auch daran, es waren etwa im 19. Jahrhundert auch viele Schweizer, die der damaligen Armut und Hoffnungslosigkeit hier zu entfliehen versuchten und etwa in den Vereinigten Staaten Aufnahme und Hoffnung fanden. Der Bundesrat versucht bei dieser Gratwanderung den Kompass richtig zu stellen und so gut wie möglich zu helfen. Das kann er aber nur mit der Bevölkerung, mit den Gemeinden. Daher ist es wichtig, dass man die Probleme benennt und sie miteinander diskutiert.

Nach diesem Prinzip der Selbsthilfe und der subsidiären staatlichen Hilfe haben wir die Schweiz aufgebaut. Nach diesem Prinzip haben wir Brücken zueinander, miteinander und füreinander gebaut. Dank diesem Prinzip, dank engagierten, freien Bürgern und einer föderalen Struktur haben wir ein stabiles Land aufgebaut, geniessen ein hohes Mass an Sicherheit, Wohlstand und Lebensqualität.

Diese politischen und wirtschaftlichen Errungenschaften sind nicht selbstverständlich. Wir müssen ihnen Sorge tragen und sie stetig pflegen.

Dass wir es in Zukunft einfacher haben werden, das behauptet niemand. Wir haben aktuell verschiedene sehr heikle Gratwanderungen zu bestehen. Und typisch für Gratwanderungen ist ja auch, dass man auf beide Seiten herunterfallen kann. Man ist oben, muss aber höllisch aufpassen bei jedem Schritt.

Zurzeit etwa in der Europapolitik. Wir tun gut daran, aufzupassen, dass wir nicht abrutschen und unsere wirtschaftliche Zukunft leichtfertig aufs Spiel setzen. Wir profitieren immer noch stark von diesem Wirtschaftsraum. Wir brauchen in vielen Bereichen Arbeitskräfte – auch aus dem Ausland. Wir brauchen die europäischen  Exportmärkte. Wir brauchen neue Abkommen etwa im Bereich Zugang zum Strommarkt und zu den Finanzdienstleistungen.
Aber! Mit unserer ausgebauten direkten Demokratie muten gewisse europäische Verfahren und Bestimmungen oft einschränkend und zu zentralistisch an. Und wir wollen als Vertragspartner auch von einer Gigantin, der Europäischen Union, nicht von oben herab behandelt werden, sondern mit ihr auf Augenhöhe verhandeln. Diese Gratwanderung wird uns stark beschäftigen. Wir werden nicht alles nach unserem Gusto aushandeln können. Das Volk wird dereinst entscheiden müssen, ob es den bewährten, angepassten - vielleicht sogar solideren Weg, wie wir ihn kennen, weiterverfolgen oder ihn verlassen will mit einer neuen, aber unsicheren Gabelung. 

Oder beim starken Franken. Viele Unternehmen und der Tourismus leiden darunter. Einfach über die Nationalbank schimpfen bringt uns nicht weiter. Wir brauchen Alternativen, die uns ermöglichen, auch mit höheren Lohnkosten, höheren Mieten und hohen Bodenpreisen wettbewerbsfähig zu bleiben. Der Arbeitsfriede, also ein gutes Einvernehmen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmenden, ist zentral und erfordert ein stetes Anpassen an veränderte Verhältnisse. Vielleicht müssen wir mal ein Jahr ohne Lohnanpassung hinnehmen, vielleicht ein wenig länger arbeiten. Solche Massnahmen dürfen aber nie einseitig auf dem Buckel der Angestellten passieren, auch das Management, die Aktionäre sollten ihren Beitrag leisten. Der Arbeitsfriede ist zentral für ein stabiles System, für eine starke Sozialpartnerschaft. Da werden wir in diesem Herbst sicher noch einige Diskussionen erleben.

Daneben brauchen wir Innovation, um mit besseren, schnelleren, moderneren Produkten und Leistungen zu überzeugen. Die Schweiz hat eine ausgezeichnete Ausgangslage mit unserer digitalen Infrastruktur, seien es Mobilfunkantennen, seien es Glasfasernetze. Warum diese nicht besser nutzen zu einer intelligenteren Bewältigung vieler Aufgaben und zu einer noch besseren Vernetzung? Die digitale Schweiz 4.0 kann uns neue Chancen, neue Jobs bieten und daher sollten wir hier eine neue strategische Position aufbauen.
Aber! Wir dürfen dabei niemanden auf der Strecke lassen. Auch hierbei muss die Seilschaft funktionieren. Auch ältere Generationen, die vielleicht nicht so gut mit den neuen Instrumenten zurechtkommen wie die 15jährigen, müssen mitkommen. Das hilft, denn wir müssen nicht die Schweiz von heute verteidigen. Wir müssen die Schweiz von morgen aufbauen.

Oder in der Altersvorsorge: Wir werden älter und unsere Renten müssen für eine längere Zeit ausreichen. Die Sozialversicherungen (AHV, BVG) sind daher finanziell abzusichern. Mit der „Altersvorsorge 2020“ will der Bundesrat das Rentenalter der Frauen angleichen und allen einen flexibleren Übergang in den Ruhestand erlauben. Wir müssen ein besseres Gleichgewicht zwischen den Generationen finden. Deshalb will der Bundesrat die AHV und die berufliche Vorsorge auch gemeinsam reformieren. Leistungen und Finanzierung sind in der Balance zu halten.
Aber! Rentner brauchen Sicherheit und die Jugend braucht eine Perspektive für das Alter, dass auch für sie diese Sicherheit garantiert bleibt.

So, wie wir im Grossen den Grat bewältigen werden, so finden Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, eine Balance im Kleinen. Viele Probleme werden bei uns auf Ebene der Gemeinden gelöst und das ist gut so. Sie wissen, wie mit dem Siedlungsdruck, mit der wachsenden Mobilität und dem Umweltschutz umzugehen. Sie planen eine Umfahrung und gestalten das Zentrum neu. Sie wissen, das Moor ist wichtig, die Laichgebiete. Sie wissen aber auch, dass man mit Beschwerden und Einsprachen das Land nicht vorwärts bringt.

Sie wissen mit der Problematik der Grenzgänger, mit dem Einkaufstourismus oder mit den Veränderungen in der Energiepolitik umzugehen. Einfach ist das nicht. Ich kenne auch Ihre Sorgen wegen der Kernenergie. Ja, Sie haben bislang gut und sicher gelebt damit. Aber neue KKW zu bauen wäre sehr teuer, und ist derzeit keine zukunftsfähige Stromerzeugung. Ganz abgesehen vom nach wie vor ungelösten Entsorgungsproblem. Unsere KKW wollen wir behalten solange sie sicher sind. Und selbst in der Phase des Rückbaus werden über Jahrzehnte Arbeitsplätze bestehen. Haben Sie also keine Angst. Mit dem PSI haben Sie zudem eines der wichtigsten Kernelemente der Hightech Strategie des Kantons in Ihrer Nachbarschaft. Und mit dem Solbad und den Gesundheitszentren bieten Sie in einem zukunftsfähigen Bereich wichtige Arbeitsplätze an.

Unsere Demokratie hilft uns all diese grossen und kleinen Gratwanderungen zu bewältigen. Die Demokratie sichert die breite Diskussion und sorgt damit dafür, dass die Meinungen der Menschen auch von den Behörden gehört werden. Das verhindert unausgegorene Schnellschüsse. Von denen bekommen wir in einem Wahljahr ja mehr als genug vorgesetzt. Denn einen Staat schafft man nicht mit Schnellschüssen. Dazu braucht es Lösungen. Lösungen, die auf Dauer bestehen, die für die grosse Mehrheit der Bevölkerung stimmen, die gerecht sind. So schaffen wir als starke Gesellschaft, als starke Demokratie und als starker Rechtsstaat alle diese Gratwanderungen.

  • Voraussetzung ist, dass wir auf diese Weg alle mitnehmen – das ist typisch Schweiz.
  • Voraussetzung ist, dass jeder in Eigenverantwortung trägt, was er selber tragen kann; dass wir jedem nur so viel in den Rucksack packen, wie er auch zu tragen in der Lage ist. Nicht mehr und nicht weniger. Aber jeder hilft mittragen – das ist typisch Schweiz.
  • Voraussetzung ist, dass wir uns an der bewährten Mitte orientieren, dass nicht jeder versucht, seine Meinung durchzusetzen. Wichtig ist, dass wir uns im Konsens und in einem konkordanten System auf ein gemeinsames Ziel einigen. Wer sich zu weit nach links oder rechts lehnt, droht abzustürzen – auch das ist typisch Schweiz.

Es geht uns gut. Und trotzdem wird gejammert und genörgelt. Wir im Bundesrat können damit leben. Wir müssen nicht geliebt werden. Wir müssen aber dafür sorgen, dass es den Menschen in diesem Land gut geht. Deshalb ist es uns lieber, wenn sich die Menschen äussern und nicht die Faust im Sack machen.

So, wie wir in der Vergangenheit als Schweizervolk erfolgreich waren, so werden wir die Gratwanderungen der Zukunft erneut gemeinsam und erfolgreich meistern. Denken Sie dabei immer daran: Es braucht einen Rucksack. Es braucht einen Kompass. Und der Rucksack ist bei keinem leer. Alle müssen ihren Beitrag leisten.

Ich wünsche Ihnen einen schönen 1. August.


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