Wissenschaft muss die Grenzen sprengen

Bern, 05.06.2015 - Rede von Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF 200 Jahre Akademie für Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT), Bern

Sehr geehrter Herr Präsident
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Hochschulen
Liebe Natur-Forscherinnen und Natur-Forscher
Liebe Gäste

C'est une grande joie et un honneur pour moi de pouvoir fêter avec vous l'anniversaire de l'Académie suisse des sciences naturelles. C'est avec grand plaisir que je vous transmets les félicitations du Conseil fédéral.

C'est connu : les jubilés sont d'excellentes occasions pour se rappeler d'où on vient et où on va. Votre président vient de le faire de façon tout à fait convaincante. Pour ma part, je souhaite consacrer les minutes qui viennent à un aspect très concret des sciences naturelles et de la science en général : l'esprit d'ouverture.

La fondation de l'Académie suisse des sciences naturelles en 1815 a lieu à un moment où le Congrès de Vienne redessine la carte de l'Europe. Ce faisant, les politiciens créaient justement ce que la science cherche toujours à dépasser : des frontières. Explorer ce qui est connu afin de découvrir quelque chose de nouveau. Connaître la nature et rendre ces nouvelles connaissances utiles pour les contemporains. C'est ce qui inspirait vos prédécesseurs lorsqu'ils ont fondé il y a 200 ans l'Académie des sciences naturelles. Il s'agit donc de dépasser toute les frontières : non seulement en termes de nouvelles découvertes, mais aussi dans l'espace géographique.

Wenn Denken eingegrenzt wird, verkümmert es. Und wenn die Räume zu eng werden, gehen die Forscher und Denker. Wie die grossen Schweizer Gelehrten, die - nicht ganz unähnlich der damaligen Söldner und der heutigen Fussballstars - die Alte Eidgenossenschaft verlassen mussten, um Karriere zu machen. Ich denke beispielsweise an den berühmten Albrecht von Haller, einen der bedeutendsten Gelehrten Europas im 18. Jahrhundert. Bern wollte ihn weder als Stadtarzt noch als Professor an der Hohen Schule. Haller ging nach Göttingen und trug dort mit seinen Forschungen massgeblich zum Aufschwung der lokalen Universität bei.

Ich denke an das Basler Mathematiker-Gespann Daniel Bernoulli und Leonhard Euler, das an den Hof des Zaren von St. Petersburg geholt wurde und dort zu Ruhm und Einfluss kam. Für zahlreiche Schweizer Gelehrte wurde das eigene Land erst dann zur Perspektive, als Bildung im Zuge des aufkommenden Liberalismus zu einem zentralen politischen Postulat wurde; als Wissenschaft und Forschung durch die Gründung von Universitäten Bedeutung und Anerkennung erhielten.

Zu dieser Entwicklung leistete auch die Akademie der Naturwissenschaften als älteste der Schweizer Akademien eine bedeutende Rolle. Sie vernetzte ihre Mitglieder über Konfessionen und Herkunft hinweg, sie unterstützte die wissenschaftliche Debatte über die Fachgebiete hinaus. Und - was nicht zu unterschätzen ist - sie förderte den Gedankenaustausch von interessierten Laien mit den Gelehrten.

Die Laienforschung gilt es nicht zu vergessen: Über Jahrzehnte von Ihnen aufgebaute Datenarchive zu Fauna und Flora sind heute von unschätzbarem wissenschaftlichem Wert und helfen, wichtige politische Diskussionen, etwa um den Stand der Biodiversität in der Schweiz, auf eine sachliche Grundlage zu stellen. Mit und dank der Akademien entstand ein Denk- und Forschungsplatz Schweiz, der heute zu den weltbesten gehört.

Unsere Hochschulen belegen regelmässig Spitzenplätze in den internationalen Rankings. Beiträge aus Naturwissenschaften und Medizin werden in Fachjournalen überdurchschnittlich häufig zitiert. Und kein anderes Land hat so viele Nobelpreisträger pro Kopf der Bevölkerung wie das unsrige. 21 Schweizer Forscher aus den Bereichen Chemie, Physik und Medizin wurden bisher mit der höchsten und renommiertesten wissenschaftlichen Auszeichnung geehrt, die vergeben wird. Wenn dieser Denk- und Forschungsplatz heute in vielerlei Hinsicht einen Vorsprung auf die internationale Konkurrenz hat, so ist das wesentlich auch der traditionellen Offenheit unseres Landes zu verdanken.

Genau das ist gemeint, wenn es heute in unserer Bundesverfassung heisst: „Die Freiheit der wissenschaftlichen Lehre und Forschung ist gewährleistet." Allerdings, wir müssen nun aufpassen, dass wir uns nach Jahren der wissenschaftlichen Prosperität nicht selber ins Mittelmass zurückmanövrieren.

Sie wissen, mit der Annahme der Zuwanderungsinitiative ist nicht nur der bewährte bilaterale Weg mit der EU generell, sondern auch die Offenheit unseres Wissenschaftsplatzes infrage gestellt geworden. Die Schweiz kann nur noch bis Ende 2016 am europäischen Forschungsprogramm Horizon2020 teilnehmen und dies auch nur als teilassoziierter Staat, wenn wir in der Frage der Personenfreizügigkeit keine Lösung mit der EU finden. Wir sind uns wohl alle in diesem Raum einig: Das hätte gravierende Konsequenzen für den Denk- und Forschungsplatz Schweiz. Es wird uns nur gelingen, einen solchen Schaden von unserem Land abzuwenden, wenn wir die Bilateralen erhalten. Dafür werde ich mich weiterhin nach besten Kräften einsetzen.

Gestatten Sie mir nach diesem Blick auf die aussenpolitische Dimension von Wissenschaft und Forschung einen Blick ins eigene Land. Auch hier haben wir grosse Herausforderungen zu bewältigen. Auch im eigenen Land ist Offenheit gefragt. Gerade auch in der Wissenschaft müssen Grenzen ausgereizt werden können.

Wir wissen alle: Wenn Fragen komplexer werden, steigt auch die gesellschaftliche Skepsis gegenüber möglichen Lösungen. Ganz deutlich erleben wie dies in diesen Tagen bei Diskussionen über die Fortpflanzungsmedizin - mit Blick auf die Abstimmung in einer guten Woche - oder seit Jahren über die Gentechnologie. Aber auch die vehementen Debatten über das Bienensterben und den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zeigen diese Skepsis in aller Deutlichkeit. Dazu kommen Themen wie Klimawandel, Energiewende oder Big Data.

Man kann mit Fug und Recht behaupten: Zur Lösung dieser elementaren Fragen können die Naturwissenschaften Entscheidendes beitragen. Lassen Sie mich deshalb drei Erwartungen an Sie, aber auch an die andern drei Akademien formulieren. Erstens, dass sie ihre Rolle als Vermittlerinnen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft weiterhin und vor allem auch aktiv spielen. Gegen Skepsis, Sorgen und Ängste hilft nur Wissen. Und dieses Wissen können Sie am besten vermitteln. Sie haben die nötige Glaubwürdigkeit. Ich ermuntere Sie aber auch, die Politik nicht zu vergessen. Expertise und Faktenkenntnisse tragen zur Versachlichung der Diskussionen bei und bewahren vor ideologischen Fehlschlüssen.

Zweitens fordere ich Sie auf, auch weiterhin laut und klar zu ethischen Fragen Stellung zu beziehen. Offene Diskussionen über Werte der Forschung sind nötig und hilfreich, um breit abgestützte Lösungen für die Zukunft zu finden. Gerade wenn es darum geht, wieweit die Medizin gehen soll und gehen darf.

Drittens ermuntere ich Sie, sich weiterhin so für den wissenschaftlichen Nachwuchs einzusetzen, wie Sie das gerade jetzt im Jubiläumsjahr tun. Mit Veranstaltungen aller Art, mit Wanderausstellungen, Tagen der offenen Tür, Exkursionen, Diskussionsrunden, Vorträgen und so weiter. Interesse und Verständnis zu schaffen, den Nachwuchs nach Kräften zu fördern, ist von grosser Bedeutung, wenn wir wollen, dass unser Land auch in Zukunft an der Spitze der weltweiten Forschung und Innovation mitmischt. Und ich bin überzeugt, wir haben eigene Talente. Wir unterstützen sie gerne dabei.

Bund und Kantone beziehungsweise Förderorgane und Hochschulen haben in den letzten Jahren bereits verschiedene koordinierte Massnahmen ergriffen, um die Situation des akademischen Nachwuchses an den Hochschulen zu verbessern. Und wir sind daran, entsprechende Massnahmen im Hinblick auf die kommende Botschaft zu Bildung, Forschung und Innovation 2017 bis 2020 zu erarbeiten.

Sie und Ihre Vorgänger haben viel geleistet, damit der Bildungs-, Forschungs- und Innovationsstandort Schweiz heute zu den besten der Welt gehört. Auf Ihre Arbeit und Ihren Beitrag zähle ich auch gerne in Zukunft. Ich bin zuversichtlich, dass die Stimme der Akademien noch deutlicher und klarer zu hören ist, jetzt wo drei der vier Akademien (und hoffentlich bald auch die vierte) im Haus der Akademien unter einem Dach vereint sind.

Ich habe es eingangs gesagt: Neugier und Offenheit haben ganz entscheidend dazu beigetragen, dass unser Land eine Wissenschaftsnation ist. Diese Neugier und Offenheit haben Sie von den Akademien stets gelebt. Tun Sie das auch in Zukunft. Unser Land braucht Sie. Ich danke Ihnen für Ihren höchst respektierten und auch erwarteten Beitrag zur Sicherung unseres Wohlergehens. Ich bin stolz auf „meine" Wissenschaftsnation. Und dies sagt jemand, der ein Leben lang mitgeholfen hat, die Theorie in die Praxis umzuwandeln. Unsere gemeinsame Innovationsfähigkeit ist auch künftig der Schlüssel zum Erfolg. Diesen widme ich Ihnen als Organisation und auch als einzelne Persönlichkeiten.

 

Es gilt das gesprochene Wort!


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