Traditionen sind die Innovationen von gestern. Erfinden wir die Traditionen von morgen!

Gruyères, 31.07.2013 - Rede von Bundesrat Johann N. Schneider-Ammann, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF Ansprache zum 1. August | Gruyères

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
liebe Freiburgerinnen und Freiburger,
liebe Greyerzerinnen und Greyerzer,

Zunächst danke ich Ihnen herzlich für den Empfang hier in Ihrer schönen Gemeinde Greyerz.

Es ist für mich eine grosse Ehre und Freude, diese Augenblicke mit Ihnen zusammen zu erleben. Der Nationalfeiertag bildet eine grosse und wundervolle Tradition. Dabei darf ich als Berner Bundesrat direkt vor Ihnen, den Freiburgern, sprechen. Und bei dieser Gelegenheit - einmal ist keinmal! - ist mein Akzent eher ein Vor- als ein Nachteil. Mit meinem Akzent werde ich Sie in meinem Referat ohne grosse rhetorische Anstrengungen immer wieder daran erinnern, dass die Schweiz ein mehrsprachiges und ein multikulturelles Land ist.

Morgen, am 1. August, dem offiziellen Nationalfeiertag, werde ich das Vergnügen haben, auf der Rütliwiese, in Chiasso und schliesslich in Guarda im Kanton Graubünden dieses Wesensmerkmal der Eidgenossenschaft zu unterstreichen. Dabei freue ich mich jedes Mal über die Vielfalt der Schweiz - die Vielfalt in der Einheit. In der Vielfalt liegt unsere Stärke. Aber mit Ihnen wollte ich als Erste feiern: Ich danke den Gemeindebehörden von Greyerz dafür, dass sie die Feierlichkeiten um einen Tag vorgezogen haben, und Ihnen allen, dass Sie der Einladung gefolgt sind. Wie gesagt bildet der Nationalfeiertag eine grosse und wundervolle Tradition.

Mit Traditionen kennt sich die Region Greyerz aus. Traditionen werden gefördert und gepflegt - wie hier, in Greyerz, das in einem völlig neuen Licht erstrahlt. Gratulation dazu! Tradition bedeutet etwas Vertrautes, eine beruhigende Präsenz; einen Anhaltspunkt und einen Anker in einer bewegten Welt. Es gibt auch Symbole für diese Tradition.

Ich denke an den Moléson. Wer heute und gestern zum Moléson aufschaut, sagt sich beim Anblick des vertrauten und majestätischen Bergs: „Hier bin ich zu Hause".

Der Moléson, ein markanter und eindrucksvoller Berg, ist in der Bilderwelt und im Brauchtum Ihrer Region fest verankert. Vor kurzem wurde er technologisch neu ausgerüstet. Heute Nachmittag bin ich in der funkelnagelneuen Drahtseilbahn bequem zum Gipfel hochgefahren. Die neue und notwendige Anlage entspricht den Erwartungen der Besucher, die in wenigen Minuten den Gipfel erreichen. Dank der Seilbahn werden zahlreiche Besucher den herrlichen Ausblick geniessen können. Bei näherer Betrachtung sage ich mir, dass die erste Installation damals wohl nicht unumstritten war.

Als zum ersten Mal vom Seilbahnprojekt die Rede war, fragten sich die Leute sicher: „Wozu denn?"

Diese Innovation hat jedoch zweifellos zum Aufschwung des Tourismus in der Region beigetragen. Die Tourismusbranche hat sich zu einem traditionellen Pfeiler der Freiburger Wirtschaft entwickelt. Innovation und Tradition - auf den ersten Blick Gegensätze, aber in Wirklichkeit untrennbar. Der Kanton Freiburg veranschaulicht dies besonders deutlich.

Sie vereinbaren in der Politik und in der Wirtschaft Achtung der Traditionen und Sinn für Innovation. Ein Beispiel ist die Neudefinition Ihres politischen Raums und der Verwaltung Ihrer öffentlichen Infrastrukturen. Das vom Freiburger Staatsrat vorgeschlagene ehrgeizige Gemeindefusionsprogramm bildet ein Paradebeispiel. Der Bezirk Greyerz zählt heute 26 Gemeinden. Ich weiss nicht, ob Sie wie geplant einmal bei 6 Gemeinden anlangen werden. Ich bin mir bewusst, dass es auf dem Weg zu dieser Reform viele Hindernisse gibt. Aber ich bin auch überzeugt, dass es sich lohnt, gründlich darüber nachzudenken.

Die Reform wird Sie stärker machen, Sie werden über rationellere, effizientere und attraktivere Infrastrukturen verfügen. Dies wird Ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf dem hart umkämpften Tourismusmarkt nur zugutekommen. Bereits heute schliessen sich einige Ihrer Gemeinden zusammen und investieren gemeinsam, um die Region mit attraktiveren Infrastrukturen auszustatten - Bravo!

Heute Nachmittag habe ich die Vertreter der Tourismuskreise Ihres Kantons getroffen. Ich habe sie daran erinnert, dass der Bund bereit ist, innovative Projekte im Tourismusbereich über die Neue Regionalpolitik und über den Innotour-Fonds für die Förderung, den Wissensaufbau und die Entwicklung im Tourismus zu unterstützen. Ich bin überzeugt, dass Sie diese Mittel nutzbringend verwenden werden. Dank Ihrem Innovationssinn und mit Hilfe der Kantone und des Bundes wird die Krise im Tourismus, die auf den starken Schweizer Franken zurückgeht, hoffentlich bald abflauen. Was für den Tourismus gilt, gilt auch für die Landwirtschaft.

Ich bin froh, dass das Referendum gegen die Agrarpolitik 14-17 nicht zustande gekommen ist. Ich habe volles Verständnis für bestimmte Ängste, aber glauben Sie mir: Wir werden die schweizerische Landwirtschaft mit ihren Qualitäten und ihrem Reichtum erhalten. Wir müssen jedoch Innovation und Ideenreichtum fördern. Die Zukunft gehört denjenigen Landwirten, die innovativ arbeiten und neue Methoden und Angebote entwickeln. 

Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Landwirtschaft, sondern für die gesamte Wirtschaft. Der Kanton Freiburg hat bereits gezeigt, dass er diesen Herausforderungen durchaus gewachsen ist. Zu Jahresanfang habe ich auf der Internationalen Landwirtschaftsmesse von Paris den Schweizer Stand besucht. Ich habe das Engagement und die Dynamik der Freiburger Vertreter vor Ort bewundert.

Sie haben keine Anstrengung gescheut, um für die Produkte und besonders die Käsesorten ihrer Region zu werben; unumstrittener Star war der Greyerzer - grosses Emmentaler-Ehrenwort! General de Gaulle soll gesagt haben: „Wie wollen Sie ein Land regieren, in dem es 258 Käsesorten gibt!" Frankreich zu regieren bedeutet sicher eine Herausforderung, aber dort Käse zu verkaufen, scheint zum Scheitern verurteilt. Die Schweiz hat zwar weniger Käsesorten, aber glauben Sie mir: sie ist nicht immer leichter zu regieren. Das ist der Tribut für unsere Vielfalt.

Aber vielleicht ist es einfacher, weniger Käsesorten zu verkaufen - dank einem innovativen Marketing, das auf kantonale Traditionen und Produktequalität setzt. Die Ergebnisse beweisen es. In den letzten Jahren hat der Absatz von Schweizer Käse im Ausland und sogar in Frankreich ständig zugelegt. Der starke Franken hat zwar zu einem leichten Rückgang geführt, aber ich bin zuversichtlich, dass alles bald ins wieder ins Lot kommt und der Erfolg sich wieder einstellt. Schliesslich möchte ich noch das auffallendste Beispiel für die Innovationsgabe der Freiburger nennen. Ich weiss, dass die Schliessung der Brauerei Cardinal für den ganzen Kanton ein schmerzhafter Schock war. Aber Ihre Behörden haben richtig darauf reagiert.

Mit dem Technologiepark Bluefactory planen sie ein Zukunftsprojekt. Die ETH Lausanne trägt zum Erfolg bei, indem sie ihr Forschungszentrum über das Wohnen der Zukunft, das „Smart Living Lab", dort ansiedeln wird. Neue junge Unternehmer werden nachziehen, davon bin ich überzeugt. Ebenso sicher bin ich, dass die Start-ups, die künftig in der Bluefactory Quartier beziehen, sich zu Unternehmen und würdigen Nachfolgern von Cardinal entwickeln werden. Sie werden ebenso wie die Brauerei zum Image des Kantons beitragen, es modernisieren und eine neue Industrietradition begründen. Alles in allem sehen wir, dass die Greyerzer und die Freiburger ihr Erbe pflegen, sich aber auch infrage stellen und neue, innovative Wege gehen. Innovation bedeutet nicht Verrat!

Tradition ist nicht immer die richtige Antwort auf die neuen Probleme, vor denen wir in einer sich ständig verändernden Welt stehen. Die alten Eidgenossen hatten das lange vor uns erkannt. 

Ich zitiere einen Auszug aus dem Bundesbrief von 1291.

„Und auf jeden Fall hat jede Gemeinde der andern Beistand auf eigene Kosten zur Abwehr und Vergeltung von böswilligem Angriff und Unrecht eidlich gelobt in Erneuerung des alten, eidlich bekräftigten Bundes (...)" Ende des Zitats.

Der Auszug beweist es: Der Bundesbrief 1291 bestätigt eine noch ältere Tradition. Er bezieht sich ausdrücklich auf einen älteren Bund und auf frühere Eide. Diese Eide werden erneuert, ebenso die Tradition der Solidarität und des gegenseitigen Beistands, die sich bereits in der Vergangenheit als nützlich erwiesen hat. Noch faszinierender ist eine Stelle weiter unten in diesem neugestalteten Pakt -

ich zitiere: „Wir haben auch einhellig gelobt und festgesetzt, dass wir in den Tälern durchaus keinen Richter, der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat oder nicht unser Einwohner oder Landmann ist, annehmen sollen."

Das sind klare Worte: Die Verfasser des Bundesbriefs von 1291 führen gegenüber früheren Briefen eine Neuheit ein.

Einhellig gelobt und festgesetzt - sie haben also beraten und diskutiert und legen eine neue Vorschrift fest: Die Richter müssen zu den jeweiligen Gemeinden gehören.

Die alten Eidgenossen haben nicht nur das herkömmliche militärische Bündnis verlängert, sondern mit der Schaffung eines neuen gemeinsamen Rechtsraums eine echte Neuerung eingeführt. Die neuen Regeln - die juristischen Innovationen - entsprachen konkreten Herausforderungen jener Zeit. Es handelte sich um Lösungen „im Hinblick auf die Arglist der Zeit", wie es ganz am Anfang des Bundesbriefs steht.

Mit der Neufassung des Bundesbriefs von 1291 wurden einerseits das bewährte traditionelle Militärbündnis erneuert und andererseits die Verbindungen und die gegenseitige Solidarität unter den Gemeinden durch die Beilegung gemeinsamer Probleme gefestigt. Kehren wir in eine näher bei der Gegenwart liegende Zeit zurück.

Hätte die Schweiz Bestand gehabt, wenn die Schweizer 1848 Neues abgelehnt und darauf verzichtet hätten, einen stärkeren Bundesstaat zu schaffen? 

Wäre die Schweiz - ohne eigentliche Bundesstruktur - nicht womöglich im Strudel der entstehenden modernen Welt untergegangen? Mit der Schaffung eines modernen Bundesstaates:

  • mit Parlamenten und Regierungen auf Bundes- und Kantonsebene;
  • mit der Zuweisung von klaren Verantwortungen und Zuständigkeiten an den Bund und die Kantone;
  • mit der Einrichtung eines Bundesparlaments bestehend aus zwei gleichberechtigten Kammern, von denen eine die Kantone vertritt; waren die Eidgenossen 1848 innovativ.

Sie haben sich dafür entschieden, die Schweiz neu zu erfinden, und damit ihre Zukunft gesichert. Sie haben bei den Neuerungen Intelligenz, Augenmass und Kompromissgeist gezeigt. Sie haben Wert darauf gelegt, dass alle Kantone einen Nutzen daraus ziehen, und dass es weder Sieger noch Besiegte gibt.

Damit haben sie eine neue Tradition begründet. Auf diese Tradition sind wir heute stolz, aber sie darf uns nicht daran hindern, auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren: im politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder internationalen Bereich. Gleich welche Lösungen wir für die heutigen Probleme finden, ein Grundsatz soll uns immer leiten: Die Schweiz muss lebendig bleiben und ihren Weg in Würde, Respekt und völliger Unabhängigkeit gehen. Nur wenn die Innovationen und Lösungen letztlich von allen übernommen werden können, entwickeln sie sich zu lebendigen Traditionen, die uns weiter inspirieren. Sich ständig neu zu erfinden ist nicht immer angenehm. Der Mensch mag Unsicherheit und Zweifel nicht.

Ständige Anpassung bedeutet jedoch eine Überlebensvoraussetzung, zumal in unseren stürmischen Zeiten. Der grosse liberale spanische Denker José Ortega y Gasset hatte genau das wie folgt ausgedrückt: Ich weiss von keiner Zivilisation, die an einem Anfall von Zweifel gestorben wäre. Dagegen glaube ich mich zu erinnern, dass Zivilisationen eher dazu neigen, an der Versteinerung ihres traditionellen Glaubens und an der Verhärtung ihrer Überzeugungen zu sterben.

Wir sollten uns diese Ermahnung zu Herzen nehmen. Um Versteinerung und Verhärtung zu vermeiden, habe ich einen einfachen Vorschlag: Denken wir immer daran, dass die Traditionen von heute die Innovationen von gestern sind.

Erfinden wir heute unsere Traditionen von morgen!

 

Es gilt das gesprochene Wort!


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