Widerstand fürs freie Vaterland - Dank den Frauen und Männern, die unserem Land Frieden und Freiheit bewahrt haben

(Letzte Änderung 07.09.2009)

Bern, 05.09.2009 - Referat von Bundesrat Ueli Maurer Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport VBS anlässlich des Gedenkanlasses zum 70. Jahrestag der Kriegsmobilmachung vom 2. September 1939 gehalten am 5. September 2009 in Full

Es gilt das gesprochene Wort! 

Wir gedenken heute der äussersten Kraftanstrengung einer ganzen Generation. Mit Jahrgang 1950 habe ich die Leistungen, die Ängste und Hoffnungen der Aktivdienstgeneration nicht mehr unmittelbar selbst erlebt. Aber ich habe von Ihrem Einstehen für die Schweiz profitieren dürfen. Ich konnte in einem intakten, unversehrten Land aufwachsen, mir blieben Kindheit und Jugend in Trümmern und Ruinen erspart. Ich komme deshalb heute zu Ihnen mit dem Dank der Nachgeborenen, mit dem Dank der Generationen, die Ihre grosse und grossartige Leistung nicht selbst miterlebt haben, denen aber Ihr Überlebenskampf für unser Vaterland ganz direkt zugute gekommen ist.

Nun ist mir nicht unbekannt, dass da und dort gefordert wird, wir sollten doch das Danken bleiben lassen. Bereits vor zwanzig Jahren ist das Gedenken an den 50. Jahrestag der Mobilmachung kritisiert worden. Man feiere den Kriegsausbruch, lautet jeweils der Vorwurf. Das ist absurd.

Wie kann man historische Tatsachen nur so verkennen, dass man den Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen vom 1. September 1939 und die Generalmobilmachung der Schweiz vom 2. September nicht auseinander zu halten vermag?

Ich wundere mich über das Mass an Unverstand, das hier sichtbar wird. Denn dieser Vorwurf ignoriert die Fakten:

Diese Geschichtsblindheit setzt die Opfer den Tätern gleich. Sie setzt hunderttausende von Schweizerinnen und Schweizern, die in einem Fleck Europa Demokratie und Friede bewahrt haben mit denjenigen gleich, die Demokratie und Friede zerstört, die alle Länder um uns herum mit Krieg, Terror und Tod überzogen haben.

Diese Geschichtsblindheit vergleicht die Angriffsarmee, die am ersten September 1939 begann, Europa und die Welt ins Verderben zu reissen, mit der schweizerischen Friedensarmee, die ab dem 2. September alles daran setzte, dass unser Land dem Grauen entgehen konnte.

Und "alles" war damals wirklich alles: Das ganze öffentliche und private Leben wurde in den Dienst des Überlebens in Freiheit gestellt.

Wie war das Durchhalten überhaupt möglich? Ab 1940, nach dem Zusammenbruch Frankreichs, war die Schweiz von den Achsenmächten umgeben. Und trotzdem hielt unser kleines Land durch. Das ganze Volk ging an die Grenze seiner Kraft. Das Leben jener Zeit war hart, war voller Verzicht und Entbehrungen.

Durchschnittlich 800 Aktivdiensttage leisteten die wehrpflichtigen Schweizer, zu denen auch die Frauen des FHD gehörten, welche die Wehrpflicht freiwillig übernahmen. Mehr als zwei Jahre, Tag um Tag gerechnet: Das ist nicht einfach nur ein langer Militärdienst, da wird der Dienst am Land zum Lebensinhalt. Das prägt die Familie. Das prägt die Berufslaufbahn. Das prägt das ganze Leben weit über das Kriegsende hinaus. 

Das prägte das Leben nicht nur der Soldaten, sondern der ganzen Bevölkerung. Denn zu Hause übernahmen Frauen, Alte und ganz Junge die Arbeit der Wehrpflichtigen. Auf dem Hof, in Betrieben und im öffentlichen Dienst leisteten diejenigen, die nicht im Felde standen, zusätzliche Arbeit und hielten das öffentliche Leben aufrecht.

Wirtschaft und Landwirtschaft wurden auf das eine grosse Ziel ausgerichtet: Überleben in Freiheit. Für das ganze Volk eine unglaubliche Aufgabe. Das war viel mehr als bloss der Verzicht auf Luxus - im Garten des Zürcher Nobelhotels Baur au Lac wurden Geschützstellungen ausgehoben -, das war der Verzicht auf alles, was nicht unmittelbar notwendig war.

Tiere wurden geschlachtet, um Ackerflächen für Friedrich-Traugott Wahlens Anbauschlacht zu gewinnen. Moore wurden trockengelegt, Parks und Sportplätze umgepflügt, die städtische Jugend in den Landdienst geschickt.

500 Gramm Fleisch im Monat - abgestuft im Einzelnen nach den Bedürfnissen, Mütter und Schwerarbeiter mehr, Büroangestellte weniger - betrug die Ration. Und 100 Gramm Vollfettkäse im Monat und 2 Eier, 225 Gramm Brot pro Tag, und so weiter und so fort!

Das sind Lebensverhältnisse, wie man sie sich in einer Wohlstandsgesellschaft, die nichts anderes als Wachstum kennt, nur schwer vorstellen kann. Gerade auch deshalb ist geschichtliches Verständnis so wichtig und wertvoll - Es macht uns bewusst: Es gibt nicht nur das gesättigte Komfortleben in Überfluss und Luxus; es kann auch anders sein; und es kann auch jederzeit wieder anders kommen. 

Unsere Geschichte ist Teil unserer Identität. Erst Geschichte gibt einem Land Gegenwart; erst Geschichte gibt einem Land Zukunft. Wer Geschichte als ewiggestrig von sich weist, der wird auch nie daraus lernen können.

Ewiggestrige sind hier in Full keine zu finden. Ich sehe hier vielmehr Veteranen, die sich um unsere Schweiz verdient gemacht haben. Ich sehe hier die Vertreter einer Generation, die eine der schwersten Prüfungen der Geschichte in Würde bestanden und unsere Schweiz gerettet haben. Und ich sehe Menschen, die diesen Veteranen als Stellvertretern einer ganzen Generation gern die verdiente Ehre erweisen.

Keine Mühe mit der Geschichte
Weshalb diese Mühe mit dem Dank? Weshalb diese Aufregung um einen würdigen, aber doch bescheidenen und kleinen Gedenkanlass? Die Wehranstrengungen wurden damals von allen wichtigen Parteien getragen; von Links bis Rechts stand man hinter Armee, Demokratie und Unabhängigkeit.

Weshalb also diese Mühe mit dem Dank? Weil die damalige Schweiz bewies, dass sie die Kraft aufbringen konnte, auch unter schwierigsten Umständen ihren eigenen, ihren freiheitlichen Weg zu gehen. Es ist dieses gelebte Bekenntnis zur Eigenständigkeit, das nicht überall gerne zur Kenntnis genommen wird.  

So wurde die Geschichte mit der Politik vermischt: Die Kritik an der Aktivdienstgeneration ist im Kern nicht historischer Natur, sondern politischer. Die bestandene schwere Durchhalte-Prüfung soll nachträglich annulliert werden. Geschichte und Geistesleben eines Landes haben einen engen Zusammenhang. Die Geschichte ideologisch zu verformen ist ein Mittel, die politischen Verhältnisse zu ändern.

Deshalb wird mit der Lupe nach Fehlern und Fehltritten gesucht, wird das unerreichbare Ideal einer menschlichen Makellosigkeit als Massstab herangezogen.

Fehltritte gab es. Es gab sie, weil nicht alle an unser Land glauben mochten, weil die Begeisterung für das Neue und vermeintlich Grosse bei einzelnen den Glauben an den Kleinstaat Schweiz überwog:

Gustav Däniker, ein Schweizer Oberst, der draussen im Reich zu Höherem vorgesehen gewesen sein mag, schrieb in seiner Denkschrift: "Es lässt sich im Grunde alles darauf zurückführen, dass in Europa seit Jahren eine Entwicklung eingesetzt hat, die wir nicht nur nicht verstehen wollen, sondern gegen die wir in engster Anlehnung an die Gegner eines neuen Europa in offenen Gegensatz getreten sind. Wir bilden uns merkwürdigerweise hierbei auch sehr viel darauf ein, fernerhin als 'Querschläger' durch ein neues Europa zu fliegen." Und er wandte sich gegen "die trügerische Hoffnung, wir könnten in allen Teilen das bleiben, was wir immer waren."   

Von ganz anderen Leuten in ganz anderem Zusammenhang haben auch wir schon Ähnliches gehört. Die Sprache der Anpassung tönt immer gleich, das Vokabular der Selbstaufgabe verändert sich nicht. Aber in jener Zeit - in Ihrer Zeit, meine geschätzten Veteranen! - stiess der Aufruf zur Anpassung weitestgehend auf taube Ohren!

Dieser Oberst wurde übrigens mit Arrest bestraft und verlor seine militärischen und zivilen Positionen. Es ist aber eine Verzerrung der Geschichte, wenn die Wankelmütigen heute mehr Beachtung finden als die Standhaften: Wenn es in der Elite und in der Bürokratie einige wenige Anpasser gegeben haben mag, so stand dagegen das Volk in seiner überwältigenden Mehrheit geeint und geschlossen. Das für seinen unverblümten und treffenden Humor bekannte Cabaret Cornichon beschrieb die damalige Stimmung mit der Pointe: "Ich bin wirklich neutral, ich habe ebenso grosse Sympathien für England wie für Amerika".

Die Leistung der Veteranengeneration spiegelt sich in der Wahrnehmung des Auslands. Die Beschimpfungen Hitlers sind ein grosses Kompliment:

Hitler bezeichnete die Schweiz als "das widerwärtigste und erbärmlichste Volk und Staatengebilde". Die Schweizer seien "Todfeinde des neuen Deutschland …". Von Mussolini sind vergleichbare Aussagen belegt.

Als Teil der Angriffsplanung gegen die Schweiz publizierte die deutsche Generalität intern ein "Kleines Orientierungsheft Schweiz". Darin wird in nüchterner Militärsprache klar festgestellt: "Die Entschlossenheit von Regierung und Volk, die schweizerische Neutralität gegen jeden Angreifer zu verteidigen, steht bisher ausser Zweifel."

Auch die Alliierten waren vom Wehrwillen und Wehrwert der Schweizer Armee überzeugt. Der Militärattaché der Vereinigten Staaten berichtet nach Washington, für ihn sei klar, "dass dieses Land im Falle einer Invasion General Guisan bis ans Ende folgen wird und dass die Aufrechterhaltung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit in den Gemütern der Schweizer vor allem anderen kommt".

Nicht vergessen darf man die humanitären und diplomatischen Dienste, welche das bedrängte kleine Land trotz seiner schwierigen Lage der Welt zur Verfügung stellen konnte:

Während der Kriegszeit fanden für kürzere oder längere Zeit insgesamt 295'381 registrierte Flüchtlinge und Internierte Schutz in der Schweiz.

Wir dürfen stolz sein auf unsere Guten Dienste. Während des Zweiten Weltkriegs besorgte die Schweiz mehr als 200 humanitäre Missionen, so auch 43 diplomatische Mandate und vertrat beispielsweise die amerikanischen Interessen in Japan und die japanischen in den USA, die britischen Interessen in Berlin und die deutschen Interessen in London.

Der englische Kriegspremier Winston Churchill fasste gegen Ende des Krieges die Leistung der Schweiz und der Schweizerinnen und Schweizer mit den Worten zusammen:

"Unter allen Neutralen hat die Schweiz den grössten Anspruch auf Anerkennung… Sie war ein demokratischer Staat, ein Symbol für Freiheit in Selbstverteidigung inmitten ihrer Berge und im Geiste, trotz anderer Rasse, weitgehend auf unserer Seite."

Keine Mühe mit der Schweiz
Jede Generation muss ihre eigenen Antworten finden, wie sie Freiheit und Friede sichert. Die Aktivdienstgeneration 39 - 45 hat ihre Aufgaben mit Bravour erfüllt. Dafür gehört ihr der ewige Dank aller Demokraten. Ob auch wir unsere Aufgaben erfüllen, wird dereinst die Geschichte beurteilen. Denn wir haben unsere Prüfung noch nicht bestanden.

Mit den Ereignissen der 20er- und 30er-Jahren vor Augen warne ich davor, Friedenseuphorie als sicherheitspolitischen Ratgeber zu akzeptieren. Nach dem ersten Weltkrieg glaubten viele an die friedensstiftende Wirkung des Völkerbundes, an eine neue Epoche der internationalen Vernunft und Verständigung. Zum Glück für unser Land gab es damals Klarsichtige, die aus den Träumen bald zur Realität zurückfanden. 

Natürlich. Es ist viel angenehmer an den Frieden zu glauben. Denn wer auch Kriege, Krisen und Katastrophen für möglich hält, ist angehalten, Vorkehren zu treffen. Das ist aufwendig, anstrengend, kostspielig.

Als Politiker ist es einfacher, das Rüstungsbudget zu kürzen, als anderswo politisch heisse Eisen anzufassen. Das war in den 20er-Jahren so. Und das ist heute auch wieder so.

Ich muss Ihnen sagen: Gegenwärtig zeichnen sich Entwicklungen ab, die mich mit Sorge erfüllen. Unsere Armee schrumpft. Der Bestand der Armee ergibt sich aus der Anzahl Wiederholungskursen mal der Anzahl Soldaten. Und die Anzahl Soldaten ergibt sich aus der Geburtenrate und der Zahl der Tauglichen. Es sind nur 55%, welche die ganze Dienstpflicht bis zum letzten WK leisten. Und die Geburtenrate sinkt massiv: Der Geburtenjahrgang 1990 zählte noch rund 38'000 stellungspflichtige männliche Schweizer Bürger, der Jahrgang 2005 nur noch 28'000. 

Ausgedrückt in der Anzahl RS-Vollender heisst dies: Der Jahrgang 1990 gibt uns knapp 21'000 Soldaten, der Jahrgang 2007 wird uns bei gleich tiefer Tauglichkeit dereinst noch gut 15'000 geben.

Zusätzlich wird die neue Zivildienstregelung die Zahlen pro Jahrgang nochmals um einige Tausend senken. Die Abschaffung der Gewissensprüfung durch das Parlament hat den Zivildienst attraktiv gemacht. Während wir in den Jahren 2000 bis 2008 rund 1'600 bis 2'100 Gesuche pro Jahr hatten, sind es allein in den ersten vier Monaten seit Inkrafttreten der Verordnung am 1. April dieses Jahres bereits über 3'000 Gesuche. 

Ich warne vor dieser Entwicklung. Wenn wir tatenlos zuschauen, schrumpft uns die Milizarmee unter die kritische Grösse - denn eine Milizarmee braucht einen gewissen Bestand, um wahrgenommen zu werden, um in der Bevölkerung verankert zu bleiben, um den verfassungsmässigen Auftrag zu erfüllen.

Wer zu einer glaubwürdigen Landesverteidigung steht, kann diese Entwicklung nicht einfach hinnehmen - Ich wünsche mir für unsere Zeit und unsere heutigen Aufgaben etwas von der Tatkraft und von der Entschlossenheit der Aktivdienstgeneration.

Denn der Widerstand für ein freies Vaterland ist eine ewige Aufgabe. Sie, liebe Veteranen, Sie und Ihre Generation haben mit Ihrem Einsatz die Heimat gerettet. Ausdrücklich möchte ich alle in diesen Dank einschliessen, die den Frauen und Männern in Uniform den Rücken gestärkt haben, sei das wirtschaftlich, politisch oder moralisch.

Diese selbstlose Bereitschaft für unsere Schweiz einzustehen, soll uns bei unseren Bemühungen um Friede und Freiheit als Beispiel stets vor Augen sein. Ich danke Ihnen - Ich danke Ihnen im Namen aller, denen unsere Schweiz etwas bedeutet.


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