Die künftige Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft

Berne, 01.09.2021 - Swiss Economic Forum, Interlaken; Conseillère fédérale Karin Keller-Sutter - la parole prononcée fait foi

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Sehr geehrte Damen und Herren, geschätzte Vertreter aus der Wirtschaft und aus der Politik

Ich freue mich sehr, heute hier unter Ihnen zu sein.

Sie wollen diese beiden Tage dem Thema "Neue Horizonte" widmen und einen Ausblick auf die Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts wagen. Ich nehme dieses Wagnis gerne an und wende mich einem Thema zu, wo es mir sehr wichtig und gewinnbringend erscheint, eine klare Zukunftsperspektive einzunehmen: Es geht mir um die künftige Beziehung zwischen Wirtschaft und Politik. Um die oft heiss diskutierte Frage, was denn die Wirtschaft, die Unternehmen in der Politik zu suchen haben, welche Rolle sie spielen wollen, können oder auch spielen müssten. 

Neue Herausforderungen für den Staat und die Politik

Welchen Herausforderungen stehen denn der Staat und damit auch die Politik gegenüber? Der bekannte deutsche Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde prägte ein nach ihm benanntes Diktum mit folgendem Satz:

"Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann".

Böckenförde erklärte das mit folgendem Widerspruch: Als freiheitlicher Staat könne der Staat einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgerinnen und Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen, reguliere. Andererseits könne er diese "inneren Regulierungskräfte" nicht erzwingen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben. Oder anders ausgedrückt: Ein liberaler Staat kann sein Fortbestehen nicht mit illiberalen Mitteln sichern, ohne sich selbst zu untergraben. Der freiheitliche Staat sei darum auf vorgelagerte Werte angewiesen, gespeist z.B. aus Christentum, Humanismus und Aufklärung. Er basiert mit anderen Worten auf einer vielfältigen, aktiven und mündigen Bevölkerung, die aufgrund gemeinsamer Werte eine Einheit bilden, die ein gesellschaftlicher Grundkonsens verbindet.

Dieser liberal-demokratische Boden wird zurzeit aber etwas wackeliger. Ich sehe dafür vier Gründe:                                              

Erstens: Der öffentliche Raum mit seinen Institutionen und Debatten wandelt sich und wird tendenziell fragiler. Nicht zuletzt in den sozialen Medien bewegen sich Menschen zunehmend in ihren eigenen Echokammern, in denen weltanschauliche Grundeinstellungen tendenziell bestärkt werden. Sie bestärken sich gegenseitig. Die eigenen Werte und Identitäten werden dann leicht absolut gesetzt. Die Folge: Der gesellschaftliche Konsens in wesentlichen Fragen wird oberflächlicher und brüchiger und der Raum für Kompromisse kleiner.

Zweitens: Die Offenheit unserer Gesellschaften und der liberal-demokratische Staat sind nicht einfach gottgegeben. Alternativen zur liberalen Demokratie finden weltweit vermehrt Zuspruch. Das betrifft Sie direkt auch als Unternehmerinnen und Unternehmer: Nur in liberalen, rechtsstaatlichen Demokratien können Sie stabile Erwartungen haben und vorausplanen.

Drittens: Globalisierung und Digitalisierung stellen die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten in Frage: Die politische Gestaltungsmacht des Staats kommt unter Druck. Zugleich stellen Bürgerinnen und Bürger immer höhere Anforderungen an ihren Staat.

Viertens: Das Corona-Virus hat uns vor Augen geführt, dass auch die moderne Gesellschaft verwundbar bleibt. Sie hat deutlich gemacht, dass alle gesellschaftlichen Akteure - und damit auch die Wirtschaft - in einer systemischen Abhängigkeit verflochten sind und teilweise von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht garantieren können.

Wenn wie zuvor beschrieben der liberal-demokratische Boden wackeliger wird, hat das auch unmittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaft. Das zu Beginn angesprochene Böckenförde-Zitat könnte man vielleicht, ummünzen auf die Wirtschaft und ganz ähnlich formulieren:

Auch die Wirtschaft lebt von gesellschaftlichen und demokratischen Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann, die ausserhalb ihrer selbst liegen, nämlich die politischen Rahmenbedingungen. Damit Sie als Unternehmen erfolgreich wirtschaften können, müssen diese gesellschaftspolitischen Grundlagen stimmen. Und dazu können Sie auch etwas beitragen.

Böckenförde würde vielleicht sogar sagen: Sie müssen! Weil die Wirtschaft, weil Sie als Unternehmerinnen und Unternehmen Teil der Gesellschaft und damit Teil der "inneren Regulierungskräfte" sind, auf denen der freiheitliche Staat nach Böckenförde basiert.

Aber wir müssen nicht Böckenförde bemühen, um zum Schluss zu kommen: Unternehmerinnen und Unternehmer sollten sich im öffentlichen Diskurs aktiver beteiligen. Denn nicht nur der liberale Staat, sondern auch die Wirtschaft und das freie Unternehmertum, stehen vor grossen Herausforderungen. "Was gut ist für die Wirtschaft, ist gut für die Schweiz": Dieser lange geltende Leitsatz wird vermehrt in Frage gestellt und ist bei den Leuten nicht mehr selbstverständlich. Nur knapp gewonnene - oder eben auch verlorene - Volksabstimmungen in den letzten Jahren sind deutliche Warnsignale. Die "Wirtschaft" wird öfters als etwas Abstraktes wahrgenommen, das seiner eigenen Logik bzw. Interessen folgt, die mit der Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger vordergründig nichts zu tun hat.  

Ich weiss es und Sie wissen es auch: Sie, als Wirtschaft und Ihre Unternehmen, sind nicht nur Teil der Gesellschaft, sondern auch zentral für den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Schweiz. Sie geben den Menschen Arbeit - und sie geben auch Identität.

Ihre Unternehmen haben auch einen gesellschaftlichen Wert, der seltener erwähnt wird, der mir in der heutigen Zeit aus den erwähnten Gründen aber besonders wichtig erscheint: Unternehmen sind auch Lebensräume! Das Unternehmen ist einer der wenigen Orte, wo Menschen aus unterschiedlichen Lebenswelten täglich zusammenkommen, sich austauschen und gemeinsam etwas erarbeiten. Unternehmen sind neben den Schulen und teilweise auch der Armee die Einrichtungen, in denen teilweise ganz verschiedene Menschen noch im grossen Stil physisch erreicht werden können. Sie repräsentieren also nicht etwa die "Wirtschaft" allein, sondern sind auch wichtige Orte von Öffentlichkeit und Gesellschaft.

Der öffentliche Raum ist seit jeher der Ort der gesellschaftlichen Debatte. Die Politik, die Wirtschaft, die Kultur und die Zivilgesellschaft ringen um die Deutungshoheit über gesellschaftliche Debatten. Sollen oder können sich Unternehmen von solchen Debatten fernhalten, sich nicht für die Politik und die Rolle des Staats interessieren? Wirtschaftliche Aktivität findet nicht in einem politischen und institutionellen Vakuum statt. Ebenso wenig wie Politik in einem Vakuum stattfindet.    

Und trotzdem: Die Unternehmen, die Wirtschaft haben oft ein Misstrauen gegenüber der Politik und auch dem Staat. Vielen Unternehmern und, Managern fällt es schwer, sich selbst als politische Akteure zu sehen. Die Politik wirkt für sie oft chaotisch, langsam und ineffizient. Und das ist auch ab und zu so. Die Idee, sich davon fernzuhalten, erscheint dann auf den ersten Blick vielleicht nachvollziehbar.

Und doch scheint mir dies nicht richtig. Die Politik in der Schweiz basiert ja darauf, die verschiedenen Interessen auszuhandeln und Kompromisse zu finden. Auch mit der Wirtschaft. Angesichts der angesprochenen Wechselwirkungen von Wirtschaft und Politik kann ein verantwortungsvolles Unternehmen seine politische Rolle nicht einfach zurückweisen. Besser wäre daher, sie auch aktiv mitzugestalten.

Denn die Abhängigkeit ist offensichtlich und gegenseitig: Unternehmen leben vom Staat und seinen Gütern wie Rechtssicherheit, Infrastruktur und Bildung. Und in Corona-Zeiten möchte man anfügen: Auch von seiner Unterstützung in Krisenzeiten. Der Staat wiederum ist, um handlungsfähig zu sein, vom wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen abhängig.

Viele Unternehmen schreiben sich heute soziale Verantwortung auf die Fahne. Ich meine hier aber etwas anderes, tiefergehendes: Ich glaube, dass sich die Unternehmen im nächsten Jahrzehnt vermehrt als "Corporate Citizens" begreifen sollten, damit hier, in der Schweiz, die Stabilität von Staat, Demokratie und Gesellschaft gefestigt werden kann.

Die Schweiz definiert sich ja - letztlich ganz im Sinne Böckenfördes - als Bürgerstaat. Der Staat, das sind wir alle! Die Idee hinter einer solch typisch schweizerisch verstandenen "Corporate Citizenship" wäre also: Auch die Unternehmen verstehen sich als "Citizens", als Teil einer Bürgergesellschaft, gestalten gemeinsam mit und tragen aktiv dazu mit.

Wie liesse sich diese "Corporate Citizenship" oder Unternehmensbürgerschaft konkret umsetzen? Ich sehe vier Pfeiler:

1.   "Weg mit den Bubbles": Nicht nur der Staat, sondern auch die Unternehmen könnten darüber nachdenken, welche Beiträge sie leisten können, um die Kluft zwischen zwei Gruppen zu verringern, die vermehrt auseinanderdriften: Auf der einen Seite die sogenannten Eliten, die von der Globalisierung in besonderem Masse profitieren. Auf der anderen Seite Menschen, denen nationale und regionale Gemeinschaft wichtig ist für ihre Identität und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl.

2.    "Unternehmen sind auch Schulen der Nation!":  Unternehmen betreiben in vielerlei Hinsicht Aus- und Weiterbildung. Bildung - auch politische - ist eine Grundvoraussetzung für die wirksame Teilnahme im öffentlichen Raum. Die zweite Einrichtung neben den Schulen, in der sich Menschen regelmässig begegnen und voneinander lernen können, sind wie erwähnt die Unternehmen. Wo Institutionen wie die Milizarmee nicht mehr so viele Menschen erreichen wie früher, werden die Unternehmen umso wichtiger. Im Rahmen der Berufsbildung und auch der Weiterbildung tragen viele Unternehmen bereits heute viel zur staatsbürgerlichen Bildung bei: Neben den Ausbildungsinhalten vermitteln die Ausbilder im Betrieb auch Werte und Tugenden, ohne die der Ausbildungsabschluss oder der Unternehmenserfolg, nicht oder kaum erreichbar sind.

3.   "Über den Tellerrand schauen: Eigene Milizpolitiker fördern:" Demokratie ist eine Veranstaltung aller Bürgerinnen und Bürger. Der Milizgedanke ist in der Schweiz ganz wichtig. Das heisst: Politik wird nicht an Politikprofis delegiert, sie soll vielmehr in der Mitte der Gesellschaft stattfinden. Starke Persönlichkeiten mit einer soliden politischen Bildung sind auch für Unternehmen wichtige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der Gesellschaft Verantwortung übernehmen und in der Lage sind, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Unternehmen sollten daher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die als Milizpolitiker mittun wollen, unbedingt unterstützen.

4.   "Eigenes politisches Engagement: Rolle der Unternehmensspitze": Politisches Engagement ist in besonderem Masse aber auch von Ihnen, als CEOs, gefordert. Politische Geschäfte an die Interessenverbände zu delegieren, reicht je länger je weniger. Sie fragen sich vielleicht: Warum sollte ich mich als Unternehmerin, oder Unternehmer politisch engagieren und damit exponieren. Das tut doch der Verbandslobbyist für mich?

Erstens: Wenn sich der Chef, die Chefin glaubwürdig öffentlich positioniert, hat das eine ganz andere Wirkung, auch bei den eigenen Angestellten.

Zweitens: Ohne persönliches Engagement sieht die Öffentlichkeit die Unternehmersicht aus erster Hand, also wie sie ist.

Meine Damen und Herren ich komme langsam zum Schluss

Für mich sollte die Schlussfolgerung aus den beschriebenen zukünftigen grossen Herausforderungen von Staat und Wirtschaft also auf keinen Fall lauten: "Halten wir uns aus der unbequemen Politik heraus!" sondern: "Wie bringen wir uns sinnvoll und glaubwürdig in die Politik ein und sorgen dafür, dass der liberale, der freiheitliche demokratische Rechtsstaat langfristig Zukunft hat?"

Ich bin überzeugt, dass die Wirtschaft unzählig viele gute Gesichter hat. Sie alle, die heute da sind, gehören dazu. Und ich würde es begrüssen, wenn diese Wirtschaft aus Fleisch und Blut wieder sichtbarer und greifbarer würde, damit sie auch wahrgenommen wird als das, was sie ist: Ein wertvoller und unverzichtbarer Teil unserer Gesellschaft - sei es als Gewerbebetrieb im Quartier oder als weltweit tätiger Konzern.

Sie werden und können dabei als "Corporate Citizen" nicht immer alles richtig machen. Die Wirtschaft ist so wenig unfehlbar wie es der Bundesrat ist. Wichtig ist - das weiss jeder innovative Unternehmer - aus Fehlern lernt man. Und man wird besser.

So entsteht nicht nur Innovation, sondern auch gesellschaftliche Akzeptanz und Glaubwürdigkeit.

In diesem Sinne freue ich mich auf den weiteren Austausch und das nun folgende Gespräch mit Ihnen.

 


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