Föderalismus: Förderer und Bremser bei der Einführung des Frauenstimmrechts

Berna, 28.05.2021 - Conferenza nazionale sul federalismo, Basilea; Consigliera federale Karin Keller-Sutter - vale il testo parlato

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Geschätzter Herr Regierungspräsident
Geschätzter Herr Ständeratspräsident
Geschätzte Ständerätinnen und Ständeräte
Geschätzte Nationalrätinnen und Nationalräte
Geschätzte Regierungsrätinnen und Regierungsräte
Geschätzte Frau Alt-Bundesrätin
Geschätzte Damen und Herren

Ich danke Ihnen, Herr Regierungspräsident, herzlich für die Einladung an diese Föderalismuskonferenz. Ich freue mich sehr, dass Sie mir die Gelegenheit geben, heute einleitend zu diesem zweiten Konferenztag die Einführung des Frauenstimmrechts zu würdigen - und damit auch zwei zentrale institutionelle Pfeiler der Schweiz: Die Demokratie und den Föderalismus.

Diese beiden Pfeiler haben nicht die gleiche Entwicklungsgeschichte. Zwar haben sie das gleiche Geburtsjahr, nämlich das Jahr 1848. Die Demokratie wurde allerdings deutlich später als der Föderalismus volljährig - nämlich erst vor 50 Jahren.

Ich sage das im Bewusstsein, dass ich damit den Gründungsvätern des Schweizer Bundesstaates nicht gerecht werde. Denn sie lebten nicht heute - sie lebten vor 173 Jahren. Und nach damaligem Massstab waren sie nicht nur Föderalisten, sie waren auch Demokraten - geradezu revolutionäre Demokraten!

Die Bundesverfassung von 1848 war ein Geniestreich, mit dem die Gründungsväter die Schweiz zur liberal-demokratischen Speerspitze in Europa machten. Sie führte - zeitgleich wie Frankreich - das allgemeine Wahlrecht für erwachsene Schweizer Männer ein, mit gewissen Abstrichen noch, aber doch weitgehender als alle anderen Staaten Europas.

Und die Schweiz behielt ihren demokratiepolitischen Vorbildcharakter anschliessend auch für mehrere Jahrzehnte - und zwar mit der Einführung des fakultativen Referendums 1874 und der Einführung der Volksinitiative 1891. Das waren nicht nur grosse demokratiepolitische Errungenschaften. Diese ausgebauten Volksrechte waren auch in hohem Masse identitätsstiftend für unser kleines, mehrsprachiges Land - und sie sind es heute noch.

Volljährig aber wurde die Schweizer Demokratie wie gesagt erst am 7. Februar 1971, als eine Mehrheit der Schweizer Männer sich endlich dazu durchringen konnten, die politischen Rechte auch den Schweizer Frauen zuzugestehen und damit auch die Verantwortung und die Macht mit ihnen zu teilen.

Man kann es auch so sagen: Erst mit der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts wurde die Schweiz zur ganzen Demokratie. 78 Jahre nach Neuseeland, 65 Jahre nach Finnland, immerhin 27 Jahre nach Frankreich und nach einem jahrzehntelangen Kampf vieler unermüdlicher Frauen, aber auch zahlreicher Männer. Die Schweiz war das drittletzte Land in Europa, vor Portugal und Liechtenstein.

Dass die Schweiz über die Jahre von der Vorreiterin zur demokratiepolitischen Nachzüglerin wurde, hat mehrere Gründe. Diese Gründe wurden breit erforscht und sie werden gerade auch in diesem Jahr breit diskutiert.

Ein Faktor - und das ist die Ironie der Geschichte - waren just die ausgebauten Volksrechte: In keinem anderen Land - ausser Liechtenstein - lag der Entscheid, auch den Frauen diese absolut zentralen Bürgerrechte zuzugestehen, in der Hand jedes einzelnen stimmberechtigen Mannes. Und eine Mehrheit der Männer war dazu bis 1971 offensichtlich nicht bereit.

Aber wir befinden uns heute ja nicht in einem gesellschafts- oder demokratiepolitischen Seminar, sondern an der Föderalismuskonferenz. Welche Rolle also spielte der Föderalismus? Die Frage ist nicht so leicht, jedenfalls nicht eindeutig zu beantworten.

Es gibt ein paar Begebenheiten, die Ihnen allen sicher bestens bekannt sind. Die eine ist, dass es primär Westschweizer Kantone waren, die das Frauenstimmrecht vorangetrieben haben. Die bekannte Frauenrechtlerin Lotti Ruckstuhl aus Wil, die mir als Wiler Kind natürlich ein Begriff war und die ich auch bewunderte, sagte einst:

"Die Sonne für das Frauenstimmrecht ging in der Schweiz im Westen auf."

Und bekannt ist auch, dass es die Frauen in den beiden Appenzell waren, die nach der Einführung des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene noch weitere 20 Jahre warten mussten, bis sie auf kantonaler Ebene zu ihrem Recht kamen. Die Innerrhoderinnen mussten es sich sogar vor Bundesgericht erkämpfen.

Das deutet darauf hin, dass der Föderalismus letztlich wohl beides war: Förderer und Bremser. Es gab aber auch eine gegenseitige Befruchtung der Diskussionen und Abstimmungen auf nationaler und kantonaler Ebene. So beschreibt die Historikerin Brigitte Studer in ihrem neuen Buch, wie der Waadtländer Regierungsrat 1957 die Pläne des Bundesrats zur ersten Volksabstimmung auf nationaler Ebene nutzte, um das Frauenstimmrecht auch auf kantonaler Ebene zu forcieren.

Der Regierungsrat hielt nämlich fest:

"Il ne serait (...) guère conforme à la structure fédérative de notre État que la Constitution fédérale pût consacrer, comme le résultat d'une évolution accomplie des mœurs, un principe qui ne trouverait son expression dans aucun des cantons de la Suisse."

Während das Anliegen auf nationaler Ebene im Februar 1959 dann mit 66-Prozent Nein-Stimmen deutlich scheiterte, stimmten die Waadtländer Stimmberechtigten am gleichen Tag der Einführung des Frauenstimmrechts auf kantonaler Ebene mit 52,6 Prozent knapp zu.

Neuenburg folgte mit einem Ja-Anteil von 53,6 Prozent im September des gleichen Jahrs. Davon profitierte laut der Historikerin Studer der Kanton Genf, als er 1960 seinerseits einen neuen - den fünften! - Anlauf unternahm. Denn die Befürworter in Genf konnten nun argumentieren, dass die Mitbestimmung der Frauen weder in der Waadt noch im Kanton Neuenburg zu einer jener Katastrophen geführt hätten, wie sie von den Gegnern vorausgesagt worden seien.

Es folgten bis 1970 weitere Kantone - zu erwähnen ist als erster Deutschschweizer Kanton natürlich Basel-Stadt im Jahr 1966! Sie bereiteten letztlich auch den Boden für die klare Zustimmung auf nationaler Ebene im Jahr 1971 - und diese klare Zustimmung wiederum war, wie es der Politologe Werner Seitz einmal nannte, ein "Katalysator" für die Einführung des Frauenstimmrechts auch in Kantonen, die bei der nationalen Abstimmung noch mehrheitlich Nein gestimmt hatten.

Ein Beispiel war mein Heimatkanton: 1971 hatten die St. Galler das Frauenstimmrecht auf nationaler Ebene noch mit 53,5 Prozent abgelehnt - nur ein Jahr später stimmten sie der Einführung auf kantonaler Ebene aber mit 65,3 Prozent zu.

Geschätzte Damen und Herren,

Dass die Männer den Frauen die politische Mitbestimmung schliesslich doch noch zugestanden haben, das war kein Geschenk. Es war ein fundamentales Recht, das den Schweizer Bürgerinnen zuvor allzu lange verweigert worden war.

Ich bin trotzdem überzeugt, dass es ein Fehler wäre, das 50-Jahr-Jubiläum des Frauenstimmrechts nicht zu feiern. Der Zeitpunkt der Einführung ändert nämlich nichts an der demokratiepolitischen Bedeutung, die ihr zukommt.

Natürlich war 1971 auch nicht das Ende der Geschichte. Die politische Gleichberechtigung war damit zwar erfolgt und 1981 wurde die Gleichstellung von Mann und Frau auch in der Verfassung verankert. Die zivilrechtliche Gleichstellung liess hingegen noch fast zwei Jahrzehnte auf sich warten, bis zum neuen Eherecht von 1988.

Entscheidend ist aber nicht, wo wir vor 50 oder vor 30 Jahren standen. Entscheidend ist, wo wir heute stehen. Das Heute soll der Ausgangspunkt der weiteren Debatte sein, nicht das Gestern. Und allen Unkenrufen zum Trotz hat die Schweiz die Rolle der Nachzüglerin in vielen gleichstellungspolitischen Belangen inzwischen auch abschütteln können. Ich erwähne insbesondere die Aufholjagd der Frauen in der Politik: Mit einem Frauenanteil zumindest im Nationalrat und im Bundesrat von über 40 Prozent liegt die Schweiz heute gleichauf mit Ländern, die der Schweiz einst mit dem Frauenstimmrecht um Jahrzehnte voraus waren.

Das bedeutet nicht, dass nichts mehr zu tun wäre. Ich denke insbesondere auch an die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie - nicht nur für berufstätige Mütter, sondern auch für berufstätige Väter. Und an die Bekämpfung von häuslicher und sexueller Gewalt.

Gleichstellung kann nie ein Kampf gegen die Männer sein. Und es reicht auch nicht, Gleichstellung auf der politischen Bühne einzufordern. Sie braucht die Bereitschaft der Frauen und der Männer gleichermassen, sie im Alltag zu leben. Ich behaupte, die Möglichkeiten dazu waren noch nie so gut wie heute!

Damit komme ich zum Schluss, ich danke Ihnen herzlich für die Aufmerksamkeit und freue mich auf Ihre Fragen.

 


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