Digitalisierung: Ein Segen für die Energietransformation
Villigen, 30.07.2024 - Forschende des Paul Scherrer Instituts PSI haben eines der umfangreichsten Energiesystemmodelle Europas verwendet, um zu berechnen, wie sich die Digitalisierung auf den Energieverbrauch auswirken wird.
Viele Menschen arbeiten heute teilweise oder dauerhaft im Homeoffice. Damit sparen sie Sprit, weil sie nicht mehr mit dem Auto ins Büro fahren müssen – gut also für die Energiewende. Oder auch nicht. Denn zu Hause verbrauchen sie umso mehr Energie fürs Heizen, fürs Kochen, auch Videocalls schlucken Extraenergie in den Rechenzentren von Microsoft, Zoom und Co. Spart die Digitalisierung nun Energie oder blasen wir damit nur noch mehr Kohlendioxid (CO2) in die Atmosphäre?
Die Antwort von Evangelos Panos macht Hoffnung. Der Forscher aus der Gruppe Energiewirtschaft am PSI hat gemeinsam mit der ehemaligen PSI-Doktorandin Lidia Stermieri und Forschenden der ETH Zürich in einem aufwendigen Rechenmodell gezeigt, dass «digitale Lifestyles» im Jahr 2050 gegenüber 2020 tatsächlich zehn bis zwanzig Prozent Energie einsparen. Rebound-Effekte – Einsparungen an einer Stelle, welche zu mehr Verbrauch an anderer Stelle führen – werden dabei durch effizientere Technologien und Verhaltensänderungen mehr als kompensiert. «Digitalisierung löst nicht alle Probleme», sagt Panos, «aber sie unterstützt die Transformation des Energiesystems auf dem Weg zu Netto-Null-Emissionen.» Über ihre Ergebnisse berichten die Forschenden im Fachjournal Energy Policy.
Sozio-ökonomische Entscheidungen berücksichtigt
Für ihre Berechnungen hat Lidia Stemieri das STEM-Energiesystemmodell (Swiss Times Energy Systems Model) herangezogen, das von der Gruppe Energiewirtschaft am PSI in Jahren akribischer Arbeit zu einem leistungsstarken Modell für die Simulation von Energiesystemen entwickelt wurde. Sechs Millionen Gleichungen mit sechs Millionen Variablen repräsentieren das Schweizer Energiesystem und die Wechselwirkungen zwischen Technologien, Energie- und Emissionsträgern und Sektoren. Über die Gleichungen sind die Variablen in vielen Dimensionen, auch über Zeit und Raum hinweg, miteinander verknüpft. So lassen sich verschiedene Szenarien bis 2050 berechnen, also bis zu dem Jahr, wo die Schweiz energieneutral sein möchte, oder sogar darüber hinaus. «Es ist das einzige Modell, das mit einer ausgesprochen detaillierten Darstellung aller Energiesystemsektoren Entwicklungspfade für das gesamte Energiesystem der Schweiz über lange Zeiträume und mit einer sehr guten zeitlichen Auflösung abbilden kann», sagt Evangelos Panos.
STEM modelliert allerdings nur die techno-ökonomische Seite des Energiesystems und gibt keine Auskunft über sozio-ökonomische Faktoren. Zum Beispiel über die Frage, wie Menschen Entscheidungen zu ihrem Energiekonsum treffen. Wer nur noch im Homeoffice arbeitet, kauft sich vielleicht kein neues Auto mehr. Aber vielleicht schafft er sich zu Hause eine Wärmepumpe an, aber auch nur, wenn er Eigentümer der Immobilie ist und nicht Mieter. Viele verwobene Überlegungen spielen hier eine Rolle, die in Summe und langfristig erhebliche Auswirkungen auf das Energiesystem haben können.
Deshalb hat Lidia Stermieri an STEM ein weiteres Modell angedockt: SEED (Socio-Economic Energy model for Digitalization). SEED bildet die Heterogenität der Entscheidungsprozesse der Akteure in Haushalten, Teilen des Dienstleistungssektors und der Industrie ab, um Synergien und Wechselwirkungen bei der Einführung energiesparender digitaler Dienstleistungen und Praktiken zu analysieren. Diese sozio-ökonomischen Entscheidungen werden über eine Schnittstelle mit STEM ausgetauscht. In der Kombination entstand so eines der umfangreichsten Modelle für Energiesysteme mit nationaler Abdeckung in Europa.
Unterschiedliche Annahmen und ihre Szenarien
Lidia Stermieri hat mit ihrem Modell zwei mögliche Szenarien berechnet und analysiert. Im Szenario «Frozen», Englisch für eingefroren, geht sie davon aus, dass die Gesellschaft kein Interesse an einer fortschreitenden Digitalisierung zeigt und diese somit stagniert. Dagegen beschleunigt sich diese Haltung im Szenario «Accelerated». Die Gesellschaft zeigt sich positiv gegenüber der Digitalisierung und die technologische Entwicklung schreitet dementsprechend voran. Hier zeigt sich auch der positive Einfluss auf den Energieverbrauch.
Für jedes Szenario berechnete Stermieri zwanzig bis dreissig Durchläufe, wofür ein schneller Computer jeweils etwa zwölf Stunden benötigt. Während jedem dieser Durchläufe interagierten die beiden Energiesysteme mehrmals miteinander, sodass das Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Technologie realistisch abgebildet werden konnte. «Wir sagen nicht die Zukunft voraus», betont Stermieri. «Wir berechnen vielmehr Szenarien nach dem Was-wäre-wenn-Prinzip.»
Auch wenn keines dieser Szenarien exakt genauso eintreten werde, seien sie als Unterstützung zur Entscheidungsfindung für die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft sehr wertvoll. «Die Szenarien zeigen mögliche Handlungsoptionen und ihre Konsequenzen. Dies ist vor allem für den Vergleich verschiedener Szenarien interessant», so Stermieri.
Einbeziehung psychologischer Effekte in künftiger Arbeit
Stermieris Modell deckt alle Sektoren ab – Haushalte, Industrie und Politik – und nicht nur einzelne Technologien. «Damit ist es einzigartig in Europa», sagt Panos. Es zeige auch die Entwicklung von den einfachen Modellen aus den 1980ern auf, die anfänglich nur den Energiesektor auf einfache Weise berechneten, über Modelle, die auch die Interaktion verschiedener Technologien simulierten. Das aktuelle Modell bezieht zusätzlich sozio-ökonomische Aspekte ein und ist damit so interdisziplinär wie nie zuvor. Doch auch das sei nur ein Zwischenschritt zu noch realistischeren Modellen, die künftig auch Erkenntnisse aus der Psychologie mitberücksichtigen sollen.
Daran arbeitet Panos mit der Doktorandin Shadi Firoozyalizadeh in einem Teilprojekt des Forschungsvorhabens CoSi (Co-Evolution and Coordinated Simulation of the Swiss Energy System and Swiss Society). Das Projekt wird vom Swiss Federal Office of Energy im SWEET-Programm (SWiss Energy research for the Energy Transition) mit rund zehn Millionen Franken gefördert und soll die sozialen Veränderungsprozesse untersuchen, die für die Transformation des Energiesystems nötig sind. In dem Projekt untersuchen Psychologinnen und Psychologen unter anderem, wie Personen Entscheidungen zu ihrem Energieverbrauch treffen. Solche Entscheidungspsychologie integriert Shadi Firoozyalizadeh dann in das SEED-Modell.
Diese Generation von Modellen wird zu einer neuen Energiepolitik führen, da ist sich Evangelos Panos sicher. «Der Politik wird ein einzigartiges Instrument an die Hand gegeben, um ihre Entscheidungen zu unterstützen und soziale Aspekte stärker zu berücksichtigen, denn Technologie allein ist nicht die Lösung.»
Stermieris Forschung wurde mit Unterstützung des Bundesamtes für Energie im Rahmen des SWEET-Projekts SURE (SUstainable and Resilient Energy for Switzerland) durchgeführt. Das SWEET-Projekt SURE wird mit sechs Millionen Franken finanziert, um robuste Pfade zu einem nachhaltigen und widerstandsfähigen Schweizer Energiesystem zu identifizieren.
Text: Bernd Müller
Über das PSI
Das Paul Scherrer Institut PSI entwickelt, baut und betreibt grosse und komplexe Forschungsanlagen und stellt sie der nationalen und internationalen Forschungsgemeinde zur Verfügung. Eigene Forschungsschwerpunkte sind Zukunftstechnologien, Energie und Klima, Health Innovation und Grundlagen der Natur. Die Ausbildung von jungen Menschen ist ein zentrales Anliegen des PSI. Deshalb sind etwa ein Viertel unserer Mitarbeitenden Postdoktorierende, Doktorierende oder Lernende. Insgesamt beschäftigt das PSI 2300 Mitarbeitende, das damit das grösste Forschungsinstitut der Schweiz ist. Das Jahresbudget beträgt rund CHF 460 Mio. Das PSI ist Teil des ETH-Bereichs, dem auch die ETH Zürich und die ETH Lausanne angehören sowie die Forschungsinstitute Eawag, Empa und WSL.
Originalveröffentlichung
The role of digital social practices and technologies in the Swiss energy transition towards net-zero carbon dioxide emissions in 2050Stermieri et al.
Energy Policy, 30.07.2024
DOI: 10.1016/j.enpol.2024.114203
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