1998 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Flavio Cotti

1. Januar 1998 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Vor 150 Jahren wurde eine neue Schweiz gegründet. Die Kantone übertrugen einen Teil ihrer Eigenständigkeit an den neu geschaffenen Bundesstaat. Dieser Gründung war ein Bürgerkrieg vorausgegangen. Trotz der harten Auseinandersetzungen fanden aber die einstigen Gegner zusammen, um die moderne Schweiz aufzubauen. Dieser zentrale Abschnitt unserer Geschichte liegt nur wenige Generationen zurück.

Unsere Schweiz lässt sich vergleichen mit einem Haus. Einem Haus, das seinen Bewohnern Schutz und ein Daheim bietet. Auch den Schwachen und Armen. Das Haus ist stattlich ausgebaut, es zeugt von ansehnlichem Wohlstand. Den Erbauern dieses Hauses, ihren Nachfolgern bis hin zu unseren Vätern und Müttern, sind wir zutiefst dankbar. Dank ihrem Einsatz, den sie auch in schwierigsten Zeiten und oft unter grossen Entbehrungen, geleistet haben, ist dieses Haus so prächtig. Dieser Dank bekommt noch eine zusätzliche Bedeutung, als in letzter Zeit von gewisser Seite eine ganze Generation in ungerechter Weise an den Pranger gestellt wird.

Dass ich heute zu Ihnen aus dem Zimmer spreche, in dem der Bundesrat seit 1857 seine Sitzungen abhält, soll ein weiteres Zeichen der Dankbarkeit sein. Gemeinsam mit dem Parlament, den Kantonen und dem Volk, welches die letzten Entscheide trifft, legt hier die Regierung seit über einem Jahrhundert die Grundlagen unseres Erfolges.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Schauen wir aber nicht nur zurück! Wir stehen inmitten grosser Veränderungen. Globalisierung, ein unerbittlicher internationaler Wettbewerb, Arbeitslosigkeit, Finanzprobleme, oder die bedrohte soziale Sicherheit prägen heute die Stimmung. Angst und Verunsicherung beherrschen die Gefühle vieler Menschen in unserem Land.

Wie reagieren wir auf diese Herausforderungen unserer Zeit? Eine alte Versuchung, wir kennen sie, läge darin, sich zu verschliessen, die schöne, vergangene Zeit zu verherrlichen und das Neue ganz einfach zu verurteilen. Diesen Weg wollen wir nicht gehen. Er führt in die Sackgasse. Wir wollen unsere Zukunft an die Hand nehmen. Mit Mut, Tatkraft und mit Weitsicht. Genauso wie es unsere Vorfahren taten. Wir haben gute Voraussetzungen, die Herausforderungen erfolgreich zu meistern. Notwendig und dringlich ist aber ein breiter Dialog über den einzuschlagenden Weg.

Wir müssen uns den zentralen Fragen offen stellen. Wie soll unsere Zukunft aussehen? Wie verhindern wir, dass wirtschaftliches Wachstum und sozialer Zusammenhalt zu einem Gegensatz werden? Wie vermeiden wir, dass unser Land in vier Sprachregionen zerfällt, die einander nicht mehr zur Kenntnis nehmen? Oder: Wie können wir die Unabhängigkeit der Schweiz sicherstellen in einer zunehmend vernetzten Welt? Streben wir nach souveräner Mitentscheidung, z. B. in der Europäischen Union, oder reicht uns der isolierte Nachvollzug von Entscheidungen, die anderswo gefällt werden?

1998 erinnern wir uns an die Gründung der neuen Schweiz. Diese Schweiz blickte damals ganz stark in die Zukunft. Gerade dieses Jubiläumsjahr bietet uns Gelegenheit, über unsere eigene Zukunft zu diskutieren. Jede Meinung ist dabei zu respektieren, inhaltlich dürfen der Debatte keine Schranken gesetzt werden. Ausser einer ganz zentralen: Auch die künftige Gesellschaft darf die wesentlichen Werte, welche die moderne Schweiz prägen, nicht aufgeben. Ich meine neben Freiheit, natürlich, und Selbstverantwortung vor allem die Solidarität mit den Mitmenschen auf der Schattenseite. Dies betrifft jede und jeden einzelnen von uns. Denn neben den Wünschen nach Selbstverwirklichung ist auch dem Gemeinschaftssinn und dem Gedanken der Nächstenliebe Geltung zu verschaffen.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

gerne drücke ich Ihnen meine besten Wünsche aus. Ich denke dabei besonders an die Kranken, an die Leidenden und an die Enttäuschten, auf dass sie wieder Hoffnung fassen. Ich denke an die Älteren, denen wir viel zu verdanken haben, und an die Kinder, deren Zukunft uns am Herzen liegt. Ich denke aber auch an unsere ausländischen Gäste und an die Schweizerinnen und Schweizer in der ganzen Welt.

Ihnen allen wünsche ich von Herzen ein gutes neues Jahr und Gottes Segen.

Download Neujahrsansprache 1998 (MP3, 292 kB, 12.09.2014)

Letzte Änderung 01.12.2015

Zum Seitenanfang

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/reden/neujahrsansprachen/1998.html