2007 - Ansprache von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey zum Nationalfeiertag
1. August 2007 - Es gilt das gesprochene Wort
Liebe Schweizerinnen und Schweizer, liebe Einwohnerinnen und Einwohner dieses Landes
Heute, am 1. August 2007, ist die Schweiz 716 Jahre alt. Es ist schön, dass wir diesen Tag in Friede und Freiheit feiern können. Dass ein Land mit Stolz an seine Geschichte und an seine Zukunft denken kann, ist nicht selbstverständlich. Denn wir leben in einer Zeit, wo an vielen Orten auf der Welt die Zeichen auf Unruhe und Sturm stehen. Es gibt viele Länder und Menschen, die mit Hunger zu kämpfen haben. Es gibt Gebiete, die seit Jahren in traurigen Bürgerkriegen erstarrt sind. Und es gibt neue Gefahren, nämlich Terrorismus, Umweltkatastrophen, Epidemien, Zivilkonflikte. Aber: Wenn wir um uns herum schauen, dann können wir stolz sein und uns glücklich schätzen, dass wir in schwierigen Zeiten in einem Land leben dürfen und können, das seit Jahrhunderten dem Frieden verpflichtet ist. In einem Land, das es seit Jahrhunderten immer wieder geschafft hat, das Alte zu bewahren und sich doch für das Neue zu öffnen.
Wir halten in gutem Sinne an unseren Traditionen fest. Wir sind bäuerlicher Herkunft, wir wissen, dass wir das Land, die Landschaft und die Umwelt erhalten und pflegen müssen. Wir können darauf stolz sein, dass seit Jahrhunderten unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Sprachen hier miteinander zusammenleben und etwas Gemeinsames geschaffen haben: Einen funktionierenden Staat, der seine Bevölkerung schützt und ihr im besten Sinne eine Heimat gibt.
Ich bin dankbar, Schweizerin zu sein. Ich bin stolz, in einem Land wirken zu dürfen, in dem keine einzelne Gruppe dominiert, sondern alle Minderheiten Achtung und Mitbestimmung geniessen.
Aber Rechte und Werte sind nicht auf ewig garantiert. Wir müssen sie auch schützen und uns für sie engagieren. Demokratie ist ein altes Wort, dennoch: Demokratie hier und heute heisst ganz konkret: Wohlstand für alle: Wir leben in einer bewegten Zeit, die unsere Wahrnehmungen verschiebt und unsere Identitäten verändert, die Globalisierung. Nicht alle haben gleich viel davon. Mitten im grossen Wirtschaftswachstum der heutigen Schweiz leben zu viele Menschen in zu grossen Schwierigkeiten. Die Kluft zwischen hohen und tiefen Einkommen wird immer grösser. Unsere Wirtschaft wächst und alle sollten daran teilhaben können. Und wir wissen, dass ein nachhaltiges Wachstum nicht möglich ist, wenn ein grosser Teil der Bevölkerung davon ausgeschlossen bleibt.
Demokratie heisst auch Chancengleichheit, und Chancengleichheit ist Integration. In der Schweiz leben wir seit langer Zeit die Diversität und die Vielfältigkeit von Herkunft und Kultur. Es bedeutet nicht, dass wir unsere Eigenheiten über Bord werfen. Sondern uns daran zu erinnern, dass wir gelernt haben zusammen zu leben.
Woher wir auch kommen, und wer wir auch sind, wir haben die gleichen Rechte. Heute, 716 Jahre nach der Gründung der Eidgenossenschaft und in einer Zeit, in der die Welt offen, global und bunt geworden ist, gehören die Rede-, Versammlungs- und Religionsfreiheit weiterhin und erst recht zu den Grundüberzeugungen unserer schweizerischen Identität. Niemand, weder eine Minderheit von rechts noch eine von links, soll und kann den Staat, den wir gemeinsam geschaffen haben und der wir gemeinsam sind, für seine Partikularinteressen benutzen.
Unsere Schweiz hat viel erreicht. Dies soll uns nicht nur mit Dankbarkeit sondern auch mit Freude erfüllen. Einmal im Jahr dürfen und sollen wir dies zeigen und auf unsere bescheidene Art feiern. Ein Nationalfeiertag, also der 1. August – ist für diejenigen, die an das Gute der Schweiz glauben und mithelfen, dass es uns auch weiterhin erhalten bleibt – kein gewöhnlicher Tag. Genauso wenig wie die Rütliwiese eine gewöhnliche Wiese ist. Sie ist mehr als einfach ein Flecken Heimat. Sie ist ein Symbol für den Willen, gemeinsam für das Einigende einzustehen und gleichzeitig die kulturelle Vielfalt zu schätzen und zu bewahren.
Ich wünsche Ihnen eine schöne und frohe 1. Augustfeier!
Letzte Änderung 30.11.2015
