2002 - Ansprache von Bundespräsident Kaspar Villiger zum Nationalfeiertag

1. August 2002 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger

Der 1. August ist in erster Linie ein Feiertag. Er ist aber auch Anlass, sich Gedanken zum Zustand und zu den Perspektiven unseres Landes zu machen.

Im internationalen Vergleich geht es der Schweiz sehr gut. Aber ich verkenne nicht, dass es auch bei uns Armut und Bitterkeit gibt. Und einiges hat uns in den letzten Jahren und Monaten verunsichert. Ich verstehe deshalb, dass viele Menschen sich Sorgen machen und Fragen stellen. Da war zunächst die lange Rezession der Neunziger Jahre. Die Arbeitslosigkeit stieg. Die Bundesfinanzen liefen aus dem Ruder. Die bilateralen Verhandlungen mit der Europäischen Union wollten nicht vorankommen. Das Verhalten der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges wurde kritisiert. 

Der mörderische Amoklauf in Zug, der Flugzeugabsturz in Bassersdorf und der Flugzeugzusammenstoss über dem Bodensee haben uns alle tief bewegt. Das frühere Qualitätssymbol Swissair brach zusammen. Wir hören und lesen von habgierigen Managern, die Bilanzen schönen und das Mass verlieren. Es gibt Kritik an Politikern, denen anscheinend das Eigeninteresse und die Selbstdarstellung wichtiger sind als das Gemeinwohl. Skepsis verbreitet sich gegenüber Medien, wenn diese Stimmung machen statt Fakten präsentieren. Das Vertrauen gegenüber wichtigen Entscheidträgern ist angeschlagen. Glücklicherweise sind solche Fehlleistungen nicht die Regel, sondern die Ausnahme. 

Es gibt allerdings noch eine zweite, eine positive Wirklichkeit. 

Die Rezession der 90er Jahre mobilisierte neue Kräfte. Politik und Wirtschaft nutzen die Krise als Chance. Viele strukturelle Probleme wurden angepackt. Das Wachstum kehrte zurück. Die Arbeitslosigkeit sank rasch auf eine internationale Tiefstmarke. Grosse Teile der Wirtschaft machten sich fit für die Zukunft. Die bilateralen Verträge mit der EU wurden erfolgreich abgeschlossen. Die Zuger bewältigten das furchtbare Unglück mit bewundernswerter Würde. In Rekordzeit wurde eine neue interkontinentale Airline aufgebaut. Nach den Vorwürfen an die Schweiz wurde die schwierige Geschichte der Weltkriegsjahre aufgearbeitet. Das hat uns Respekt verschafft. Die Expo.02, ein ausserordentliches Ereignis, steht, und sie ist ein Erfolg. Nach wie vor wird in der Wirtschaft, in der Politik und im Journalismus weit überwiegend ausgezeichnete Arbeit geleistet. Sonst ginge es der Schweiz nicht so gut. Und das Schweizervolk hat in vielen Abstimmungen immer wieder Weitsicht und Augenmass bewiesen.

Die Ausgangslage der Schweiz zur Bewältigung der Zukunft ist somit gut. Sicher, die gegenwärtigen Turbulenzen an der Börse schaffen Verunsicherung und betreffen viele spürbar. Trotzdem halte ich den allgemeinen Zustand unserer Wirtschaft und unseres Sozialstaates für solide. Wir müssen uns aber auf unsere Stärken besinnen, um in einer Zeit des raschen Wandels und des globalen Konkurrenzkampfes zu bestehen. Ich denke dabei an viererlei:

Das Erste: Eine der Stärken unseres Landes ist seine Stabilität. Das hat zu tun mit unserer politischen Kultur der direkten Demokratie, der gelebten Solidarität, des Respektes gegenüber Minderheiten, der Achtung unserer vier Kulturen und Sprachen, des lebendigen Föderalismus. Diese politische Kultur ist zukunftsfähig. Wir müssen ihre Werte hochhalten.

Das Zweite: Erfolg ist nichts Dauerhaftes. Gerade wenn es so gut geht, wird man gerne selbstzufrieden. Im globalen Konkurrenzkampf zählt aber nur die Leistung. Wirtschaft und Staat werden deshalb ihre Strukturen immer wieder anpassen müssen, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen. Die Schweiz hat immer wieder bewiesen, dass sie in schwierigen Zeiten Reserven mobilisieren kann. Auch jetzt müssen wir eine gewisse Reformmüdigkeit überwinden und unser Haus wirtschaftlich, politisch und sozial stets in Ordnung halten. 

Das Dritte: Die Entscheidungsträger müssen alles daran setzten, verlorenes Vertrauen wieder herzustellen. Nur eine freiheitliche Gesellschaft und eine freie Wirtschaft werden der Zukunft gewachsen sein. Aber diese Freiheit hat ihren Preis, nämlich die Verantwortung. Und Verantwortung in Politik, Wirtschaft und Medien heisst, sich nicht am kurzfristigen Nutzen für sich selber, sondern am langfristigen Wohl aller zu orientieren. Erst der Tatbeweis der Verantwortung wird neue Glaubwürdigkeit schaffen.

Das Vierte: In einer Zeit, da alle Krisen und Konflikte dieser Welt auch in unserem Land direkte und handfeste Auswirkungen haben, müssen wir uns solidarisch und im Rahmen unserer begrenzten Möglichkeiten an der Lösung der grossen globalen Probleme beteiligen. Das Volk hat mit dem UNO-Beitritt ein wichtiges Zeichen gesetzt.

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,

711 Jahre hat sich die Schweiz mit Erfolg behauptet. Jede Zeit hatte ihre besonderen Risiken und Chancen. Mit einer gemeinsamen Anstrengung wird es gelingen, auch die heutigen Herausforderungen zu bewältigen und unsere Zukunft erfolgreich zu gestalten. Machen wir uns also ans Werk, mit gesundem Selbstvertrauen, aber ohne Überheblichkeit.

Ich wünsche Ihnen alles Gute.

Download Nationalfeiertag 2002 (MP3, 2 MB, 15.09.2014)

Letzte Änderung 30.11.2015

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