1978 - Ansprache von Bundespräsident Willi Ritschard zum Nationalfeiertag

1. August 1978 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Man kann Geburtstage auf sehr unterschiedliche Weise feiern. Auch den 1. August, den Geburtstag unseres Landes. Bei nationalen Gedenkanlässen sind wir Schweizer immer ein wenig verklemmt. Wir wissen nie recht, ob es eine Feier ist oder ein Fest. Und darum wissen wir auch nie, was für ein Gesicht wir nun eigentlich dazu machen sollen. Für mich ist der 1. August ein Fest. Ich halte unsere Eidgenossenschaft immer wieder für eine freudige Erscheinung. Und ich freue mich auch über die Tradition, dass der 1. August bei uns vor allem ein Fest der Kinder ist. So ist für manchen von uns dieser Tag eine Erinnerung an eine schöne und glückliche Kindheit.


Wir denken mehr daran als an den Rütlischwur von 1291. Ich halte das für etwas Gutes. Denn Heimat hat nicht einfach nur mit Geschichte, mit Grenzen oder mit einem politischen System zu tun. Heimat ist etwas Persönliches. Es ist die Gewissheit, zu jemandem zu gehören. Mitglied einer Gemeinschaft zu sein. Einer Gemeinschaft, auf die man sich verlassen kann, die einem schätzt und die keinen fallen lässt. Es ist das Gefühl, verstanden zu werden. Die Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber dem einzelnen kommt in der Sozialgesetzgebung des Staates zum Ausdruck. Indem wir gemeinsam unseren alten und invaliden, oder auch sonst bedrängten Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine gesicherte Zukunft garantieren, verteilen wir auch Freiheit. Freiheit kann sich nur in der Sicherheit entfalten. Sich sicher fühlen, in der Gemeinschaft geborgen zu sein, das ist auch das warme Gefühl, dass man eine Heimat hat.

Nicht politische und geographische Grenzen also machen die Heimat aus. Wir müssen uns bemühen, innerhalb von diesen Grenzen möglichst viel Heimat zu verwirklichen. Unser Land hat schlechtere Zeiten erlebt als heute. Die sogenannte «gute alte Zeit» war nicht für alle gut. Sie ist auch einmal die schlechte, neue gewesen. Aber unsere Welt ist komplizierter geworden.

Wir haben zwar alle von den raschen technischen Entwicklungen profitiert und geniessen die Früchte davon. Wir müssen nicht bei Petrollicht fernsehen. Aber gelegentlich scheint es doch, dass wir die Mahnung des Heiligen Niklaus von der Flühe «machet den Zuun nicht zu wyt» nur gerade auf die Geographie bezogen haben. Wir sind ein kleines Land geblieben. Aber wirtschaftlich haben wir die Grenzen des Kleinstaates gesprengt.

Ich will das nicht beklagen. Aber wir müssen wissen, dass unsere weltweiten, wirtschaftlichen Verflechtungen auch ihre Kehrseite haben. Einmal sind wir für viele mitverantwortlich geworden, was in den Ländern geschieht, mit denen wir Handel treiben, Bankgeschäfte abschliessen und an denen wir Geld verdienen. Und wir können uns dieser Verantwortung nicht entziehen.

Dann unterliegen unsere politischen Entscheide mehr und mehr Sachzwängen, die uns von aussen aufgedrängt werden. Und das Gefühl, nicht mehr überall selber zu bestimmen, sondern zu Entscheidungen durch andere, anonyme Kräfte gezwungen zu sein, führt dann manchen in die Resignation. Er interessiert sich so nicht mehr für den Staat und die Politik. Er denkt, das habe doch keinen Wert. Resignation ist aber ein Zurückfallen in die Angst. Und Angst ist immer ein Schritt in die Unfreiheit. Wir sind ein demokratischer Staat. Wir haben die Freiheit und die Möglichkeit, gemeinsam unsere Politik zu bestimmen. Aber Freiheiten, die man nicht benützt, die verschwinden mit der Zeit. Von Freiheit kann man nicht nur reden. Man muss sie auch leben und ausfüllen. Aber ich muss es in der letzten Zeit immer wieder sagen und schreiben:
In der Demokratie bestimmt die Mehrheit. Es ist nicht schwer, ein Demokrat zu sein, solange man zur Mehrheit gehört. Demokratische Gesinnung muss man beweisen, wenn man in die Minderheit versetzt worden ist. Diese demokratische Grundregel anerkennen nur solche Leute nicht, für die Freiheit immer nur ihre Freiheit ist.

Wir haben dieses Jahr den 150. Geburtstag von Henri Dunant gefeiert. Er hat nicht allein das Rote Kreuz gegründet. Er hat unserem Land auch weltweit zum Ruf verholfen, ein humanitäres Land zu sein, das den Menschen helfen will. Ich habe gesagt, dass wir auch mitverantwortlich geworden sind für diese Welt. Und in dieser Welt gibt es noch viel Armut. Armut aber ist eine sehr harte Form von Unfreiheit. Das darf uns nicht unbeteiligt lassen. Friede kann nur sein, wo auch Gerechtigkeit ist. Soziale Gerechtigkeit. Die besteht aber nicht. Die Güter auf der Welt sind ungleich verteilt. Es gibt Armut. Und zwar unverschuldete Armut. Es ist unsere Pflicht zu helfen. Aber das kann man nicht nur mit Worten tun. Gerechtigkeit kostet etwas. Der Friede ist nicht gratis. Sind wir aber auch heute noch alle bereit, beweiskräftig zu zeigen, dass wir den Frieden wollen und für den Frieden einstehen? Ich weiss sehr gut, dass wir in unserem Lande selber auch noch viele Probleme haben. Wir sollen und müssen uns anstrengen, sie zu bewältigen. Aber wir können unsere Probleme nie nur für uns selber und ohne Rücksicht auf andere lösen. Das wäre unschweizerisch. Wir wollen ja ein solidarisches, ein humanitäres Land sein. Das Land Henri Dunants und des Roten Kreuzes.

Jeder Schweizer soll auf sein Land stolz sein dürfen. Nationalstolz gehört auch zum Heimatgefühl. Aber wer nur an sich selber denkt, hat keinen Grund, stolz zu sein. Dem glaubt seinen Stolz keiner rnehr. Zur Freiheit gehört auch die Selbstverwirklichung. Die Möglichkeit, sich oder seinen Staat zu verändern. Am 24. September dieses Jahres wird es um unsere Fähigkeit gehen, die Jurafrage würdig und eidgenössisch zu lösen. Die Gründung dieses neuen Kantons ist ein freudiges Ereignis für unser Land. Sie beweist, dass unsere Demokratie lebt. Nur was sich wandeln kann, lebt.

Jeder von uns sollte den Groll über Unschönes, das im Jura auch passiert ist, vergessen. Das Ja zum neuen Kanton ist die einzig mögliche Antwort an ein paar Hitzköpfe. Sie bekommen mit einem Ja nicht Recht, wie mancher vielleicht glauben möchte. Sie werden im Gegenteil endgültig ins Unrecht versetzt. Denn dieser neue Kanton ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen gebildet worden. Und er wird ein Staat sein, der mit unvernünftigen und gewalttätigen Elementen fertig werden muss und fertig werden wird. Eine Region bittet das Schweizervolk am 24. September um das Recht, ein eigener Kanton zu werden. Wir wollen zeigen, dass wir als Demokraten zu handeln verstehen. Demokraten nehmen auf Minderheiten Rücksicht. Sie lösen ihre Konflikte friedlich und vernünftig. Ich bitte Euch alle um ein freudiges Ja zum neuen Kanton.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

Der 1. August ist für uns alle mit Bedeutung beladen. Wir hätten über Vieles nachzudenken.Aber richtig ist auch, dass wir aus diesem Tag einen festlichen Tag machen. Dazu gehört die Freude, die uns zusammenführt und die uns zeigt, dass wir zusammengehören.

Ich wünsche Euch und unserem Land eine schöne Bundesfeier.

Letzte Änderung 30.11.2015

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