"Die Kunst des Imperfekten"

Berna, 02.06.2022 - Discorso, 2 giugno 2022: Rheintaler Wirtschaftsforum; Consigliera federale Karin Keller-Sutter - vale il testo parlato

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Geschätzte Damen und Herren

Ein politischer Wegbegleiter von Helmut Schmidt sagte einmal, der ehemalige deutsche Bundeskanzler habe Politik als Krisenmanagement verstanden – und das habe den meisten seiner sozialdemokratischen Parteikollegen nicht gereicht.

Nun vermochte Helmut Schmid vielleicht nicht die Herzen seiner Parteifreunde zu erwärmen. Aber es würde wohl niemand bestreiten, dass er ein ausserordentlicher Politiker und Staatsmann war. Und vermutlich lag er darum mit seinem Verständnis von Politik als Krisenmanagement auch nicht ganz daneben.

Nun würde ich persönlich die Politik zwar nicht gerade als permanente Krise bezeichnen. Und Schmidt war ja auch in überaus schwierigen und bewegten Zeiten an der Macht – nämlich in Zeiten des kalten Kriegs und des linken Terrors der Roten Armee Fraktion, der RAF.

Aber ich finde den Gedanken, Politik als Krisenmanagement zu verstehen, dennoch interessant. Und zwar darum, weil gute politische Führung nach meiner Erfahrung gerade nicht von der Art der Lage abhängig ist.

Führung in der Krise unterscheidet sich im Grunde nicht von Führung in ruhigeren Zeiten. Wer in einer «normalen» Lage nicht führungsstark ist, ist es in der Regel nämlich auch nicht in einer «ausserordentlichen» Lage.

Was aber macht gute Führung aus?

Es sind meines Erachtens drei Dinge:

Dass man - erstens - schnell und mit kühlem Kopf analysieren kann.

Dass man - zweitens - die grossen Linien nicht aus den Augen verliert.

Und drittens, dass man – und das ist wohl das Wichtigste – auch den Mut hat, zu entscheiden.

Man muss entscheiden, selbst wenn man weiss, dass man den Entscheid nachher vielleicht noch nachjustieren muss. Man muss entscheiden, obwohl man nicht alle Details kennt. Es gibt - gerade in einer Krise - jedenfalls nichts Schlimmeres, als aus Angst vor Fehlern oder Kritik, nicht zu entscheiden.

Schon der französische General De Gaulle sagte:

«Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen durchzuführen, als beständig nach vollkommenen Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben wird».

Man könnte es auch etwas prosaischer sagen: Das Bessere ist der Feind des Guten.

Dieser Ausspruch wird übrigens dem französischen Dichter Voltaire zugeschrieben. Offenbar kennen sich die Franzosen mit der Kunst des Imperfekten aus!

Wobei es auch eine ähnliche Aussage von Einstein gibt. Er soll jedenfalls gesagt haben, dass jemand, der nie einen Fehler gemacht hat, auch nie etwas Neues versucht hat.

Wenn ein General, ein Dichter und ein Physiker zum gleichen Schluss kommen, dann muss etwas dran sein!

Zum Entscheiden gehört aber auch: Verantwortung übernehmen.

Es gibt aus meiner Sicht zwei Arten von Verantwortungslosigkeit:

Die eine besteht darin, dass man entscheidet, ohne sich der Verantwortung, die man dabei für andere trägt, bewusst zu sein.

Und die andere darin, dass man nicht entscheidet, weil man nicht bereit ist, die Verantwortung für seine Entscheide zu tragen.

Verantwortungsvoll zu handeln, kann schwer und schmerzhaft sein.

Wenige wissen das besser als Helmut Schmidt.

Sie erinnern sich sicher an die Entführung von Hanns Martin Schleyer im Jahr 1977. Die RAF hatte den damaligen deutschen Arbeitgeberpräsidenten als Geisel genommen, um gefangene Terroristen freizupressen. Die Regierung unter Schmidt entschied, sich von den Terroristen nicht erpressen zu lassen. Schleyer wurde ermordet. Schmidt übernahm die Verantwortung für diesen schweren Entscheid, zu dem er auch Jahre später noch stand.

Es ist leider nicht so, dass man immer zwischen Richtig und Falsch, zwischen Gut und Böse wählen kann. Nein, sehr oft muss man zwischen zwei Übeln entscheiden - im Idealfall entscheidet man sich natürlich für das Kleinere.


Liebe anwesende Damen und Herren

Als ich angefragt wurde, ob ich am 27. Rheintaler Wirtschaftsforum sprechen würde, galt in der Schweiz seit wenigen Tagen wieder die «besondere» Lage. Das war im Juni 2020. Das Forum hätte im Januar 2021 stattfinden sollen - und es musste dann bekanntlich noch zweimal verschoben werden.

Der Alltag von uns allen und natürlich auch die Arbeit im Bundesrat war damals von einem Thema dominiert: Der Corona-Pandemie.

Das Thema Ihres Forums war daher auch passend gewählt: «Risiko, Verantwortung, Führung – wie wir in und nach Krisen zukunftsfähig bleiben.»

Die Pandemie begleitete uns zwei Jahre lang. Dennoch wirkt sie fast wie eine ferne Erinnerung, seit Russland am 24. Februar die Ukraine überfallen hat.

Das Thema des Forums hat an Aktualität also nicht verloren. Im Gegenteil.

Im Dezember 2021 schrieb der «Economist», dass wir in einer Zeit der vorhersehbaren Unvorhersehbarkeit leben. Und das gilt bei Weitem nicht erst seit gestern. Auch Sie weisen in Ihrem Programm darauf hin, dass wir «in einer Welt von Ungewissheiten» leben.

Ein Krieg mitten in Europa, Millionen Menschen, die flüchten, auch zu uns, drohende Lücken in der Strom- und Energieversorgung, drohende Hungersnöte in nordafrikanischen Ländern, die vom Getreide aus der Ukraine und Russland abhängig sind, Inflation. Themen, die auch Sie in Ihren Funktionen sicher stark beschäftigen.

Das tönt düster. Und ich würde auch keinem trauen, der mir heute sagt, er wisse, was morgen die richtige Antwort auf all diese Ungewissheiten ist.

Wie aber geht der Bundesrat mit dieser Ungewissheit um?

Entschuldigen Sie den Spoiler gleich zu Beginn: Ich werde nicht in die Abgesänge auf den Bundesrat einstimmen, die im Moment ja etwas in Mode zu sein scheinen.

Nicht, weil ich selber Mitglied des Bundesrats bin und meine Kolleginnen und Kollegen und mich verteidigen möchte. Das Urteil über unsere Arbeit überlasse ich anderen. Und wir sieben wissen vielleicht besser als andere, dass auch der Bundesrat nicht unfehlbar ist!

Nein, der Grund, warum ich das Glas vielleicht etwas voller sehe als manche Kritiker, ist ein anderer. Ich bin nämlich überzeugt, dass der Bundesrat eine gute Institution ist. Dass wir ganz grundsätzlich gute Institutionen haben. Und diese Institutionen gilt es auch zu verteidigen.

Es ist natürlich so: Führen in einer Konkordanzregierung ist manchmal eine Herausforderung. Und Führen in einer Konkordanzregierung in einem föderalistischen Staatswesen macht es auch nicht immer einfacher.

Man muss sich im Bundesrat stets mit dem ganzen politischen Meinungsspektrum auseinandersetzen. Das Resultat ist – das gilt ja auch für die Geschäftsleitung eines Unternehmens – eine Gesamtleistung. Diese wiederum hängt davon ab, dass jedes Mitglied in seinem Bereich die ihm zugewiesene Verantwortung wahrnimmt. Man muss dann natürlich auch Entscheide kollegial mittragen, mit denen man vielleicht nicht immer hundertprozentig einverstanden ist. Und ich kann auch nicht ausschliessen, dass sich das eine oder andere Mitglied des Bundesrats die Kantone schon mal ins Pfefferland gewünscht hat. Es wäre allerdings überheblich zu denken, dass es nicht auch den Kantonen mit dem Bundesrat manchmal so geht!

Die Konkordanz und der Föderalismus gehören zu den zentralen politischen Checks and Balances in unserem Land.

Und es sind gerade die Herausforderungen, die sie mit sich bringen, die – auch davon bin ich überzeugt - zu besseren Entscheiden führen. Auf Bundesebene, aber auch auf kantonaler und kommunaler Ebene. Nicht, weil die Entscheide perfekt wären, sondern weil sie politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich tragfähiger sind.

Bei aller Kritik am Corona-Regime, das manchen zu lasch und anderen zu streng war, und trotz dem Leid, das diese Pandemie verursacht hat, wage ich jedenfalls zu sagen: Wir sind nicht schlecht durch diese Krise gekommen. Auch hier ging es bei Bund und Kantonen in der Regel um die Wahl des kleineren Übels, um ein stetes Abwägen von gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekten, von Vor- und Nachteilen der verschiedenen Massnahmen – und manchmal musste man eben auch nachjustieren.

Kritik an der Führung des Bundesrats gab es auch unmittelbar nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Aber auch hier kann man objektiv festhalten, dass die Schweiz die Sanktionen gegen Russland sehr rasch übernommen hat.

Und der Bundesrat hat mit der Übernahme der Sanktionen - allen Unkenrufen zum Trotz – die Neutralität der Schweiz nicht etwa geopfert, er hat sie vielmehr verteidigt.

Zu dieser Erkenntnis gelangt auch, wer den Neutralitätsbericht des Bundesrats von 1993 liest, der leider etwas in Vergessenheit geraten ist.

Damals hatte der Bundesrat nämlich bereits festgehalten:

«Der Status der Neutralität wird von der Völkergemeinschaft nicht geachtet werden, wenn eines seiner Merkmale die Fortführung der Wirtschaftsbeziehungen mit einem sanktionierten Völkerrechtsbrecher ist.»

Rasche Entscheide waren aber auch in der Migrationspolitik nötig. Mit der Aufnahme von bisher über 54'000 Schutzsuchenden aus der Ukraine haben wir uns von Anfang an solidarisch gezeigt. Wir waren und sind aber auch solidarisch mit den Nachbarstaaten der Ukraine, die natürlich ganz besonders stark von den Flüchtlingsströmen betroffen sind.

Trotz dieser historisch hohen Flüchtlingszahlen, können wir in der Schweiz heute aber nicht von einer eigentlichen Krise sprechen. Denn trotz der riesigen Herausforderung, die dieser Zustrom für das Asylsystem und die Behörden bedeutet hat, konnte sie bisher gut gemeistert werden. So hat jeder der Geflüchteten aus der Ukraine rasch ein Dach über dem Kopf und den nötigen Schutz erhalten.

Das war nicht zuletzt dank der grossen Solidarität in der Bevölkerung möglich, die viele Schutzsuchende privat aufgenommen hat. Es war aber auch möglich, weil der Bundesrat rasch entschieden hatte, den sogenannten Schutzstatus S anzuwenden. Hätte er auf ordentlichen Asylverfahren bestanden, wäre das System hingegen innert Wochen, wenn nicht Tagen zusammengebrochen.

Auch hier ist es natürlich nicht so, dass alles perfekt wäre. Weil die Situation neuartig ist, die Ukrainerinnen und Ukrainer im Schengenraum zum Beispiel frei reisen können, stellen sich immer wieder neue, andere Fragen, auf die Bund und Kantone laufend Antworten finden müssen.


Meine Damen und Herren

Wir wissen heute nicht, was morgen ist. Wir müssen uns auf verschiedene Szenarien vorbereiten, wir müssen aber auch damit leben, dass wir nicht in einem perfekten System leben. Dass es zwischen Bund und Kantonen auch mal zu Spannungen kommt. Dass es nicht auf jede Frage eine einfache Antwort gibt. Und dass auch nicht jeder tatsächliche oder vermeintliche Widerspruch immer aufgelöst werden kann – dieses Kunststück schaffen nur Ideologien.

Wir können uns aber glücklich schätzen, dass unsere Vorväter vor fast 175 Jahren Institutionen geschaffen haben, die bis heute ein stabiles Fundament für die moderne Schweiz bilden. Dass wir in einer liberalen Demokratie leben, in Freiheit und Sicherheit.

Der Umgang mit der Corona-Pandemie in autokratischen Staaten wie China und der russische Krieg gegen die Ukraine haben uns eindrücklich vor Augen geführt, dass das alles andere als selbstverständlich ist.

Darum gilt es, die demokratischen und rechtsstaatlichen Errungenschaften zu verteidigen und die Institutionen zu pflegen. Zu dieser Pflege gehört selbstverständlich auch die kritische Auseinandersetzung mit diesen Institutionen. Und ebenso die Kritikfähigkeit der Personen, die diese Institutionen jeweils auf Zeit quasi verkörpern.

Sie müssen aber nicht nur kritikfähig sein, sondern auch lernfähig, gerade dann, wenn man zukunftsfähig bleiben will. Nicht nur, aber auch in Krisenzeiten. Das gilt natürlich nicht nur für Politikerinnen und Politiker, sondern auch für Unternehmerinnen und Unternehmer wie Sie!

Ich komme zum Schluss.

Es gibt vom 2015 verstorbenen Helmut Schmidt viele Bonmots. So hatte er nicht nur gesagt, dass sich in der Krise der Charakter beweise. Was stimmt.

Und dann sagte Schmidt einst auch noch den Satz:

«In diesem Jahrhundert steht die Selbstbehauptung der europäischen Zivilisation auf dem Spiel».

Er sagte das 2010, also vor 12 Jahren. Dieser Satz ist in diesen Zeiten mehr denn je bedenkenswert.

 

Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Aufmerksamkeit!


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