Liestal, 4. April 2019. Betrachtungen eines Politischen

Berna, 04.04.2019 - Discorso del consigliere federale Alain Berset in occasione della festa «Carl Spitteler – 100 anni del Premio Nobel per la letteratura» – Fa stato la versione orale.

Die Chance, dass Politiker bei einem runden Datum nicht auftauchen, ist heutzutage praktisch gleich null. Denn Politiker finden im Werk von Jubilaren immer etwas, das sich gut verwenden lässt. Das geht auch mir so. Carl Spitteler Werk bietet inspirierende Einsichten zu Themen, die auch mich beschäftigen.

Beispiel Reform der Altersvorsorge: Spitteler arbeitete lange an seinem Werk «Prometheus und Epimetheus». Sehr lange: 14 Jahre. Ich will jetzt nicht sagen, dass mich das inspiriert für die Reform der AHV – aber es tröstet mich doch ein wenig. Und Spitteler erfand einen genialen Begriff für das Reformieren ohne Ende, ich meine: das Reformulieren ohne Ende: Die, ich zitiere: «Varianten-mühle». Das hätte mir auch in den Sinn kommen können. Aber dafür braucht es eben einen Nobelpreisträger.

Im Ernst. Sind wir allzu sehr auf Jubiläen fixiert? Sind das einfach Versuche der Sinnstiftung in verwirrenden Zeiten? Gewiss: Die Geschichtsvergessenheit der letzten Jahrzehnte ist einer eigentlichen Geschichtsversessenheit gewichen.

Aber rituelle Leerläufe sind Jubiläen gewiss nicht. Denn wir verstehen uns und unser Land besser, wenn wir uns mit den wirkungsmächtigen Figuren unserer Geschichte auseinandersetzen. Im aktuellen Jubiläumsjahr werden gefeiert: Huldrych Zwingli, Alfred Escher, Gottfried Keller, Carl Spitteler. Carl Spitteler? Er ist der grosse Unbekannte der Schweizer Literatur- und Geistesgeschichte.

Seltsam - der einzige gebürtige Schweizer, der je den Literatur-Nobelpreisträger gewann, ist heute höchstens noch ein Geheimtipp. Und das war er eigentlich schon zu Lebzeiten. Die Zeitgenossen reagierten jedenfalls überrascht, als Spitteler den Nobelpreis erhielt. Das «Svenska Dagbladet» nannte Spitteler einen «König ohne Reich». Man empfand sein Werk «Olympischer Frühling», für das er den Nobelpreis erhielt, als seltsam antiquiert; was nicht überrascht, handelt es sich doch um ein Vers-Epos, erschienen 1905, dem gleichen Jahr, in dem Einstein seine spezielle Relativitätstheorie veröffentlichte.

Was Spitteler bis heute spannend macht, ist nicht zuletzt seine – zumindest scheinbare - Widersprüchlichkeit. Er studierte Theologie – als Atheist. Er, der „olympische“ Dichter, war dem Pathos nicht abgeneigt. Gleichzeitig jedoch war er auch ein grosser Satiriker und Selbstironiker.

Schon früh gab Spitteler seinen Zeitgenossen Rätsel auf. Gottfried Keller zeigte sich von seinem Werk «Prometheus und Epimetheus» beeindruckt und attestierte diesem eine «tiefe Poesie». Aber Spittelers Erstlingswerk hinterliess ihn auch etwas ratlos; er schrieb an einen Freund: «Was der Dichter eigentlich will, weiss ich nach zweimaliger Lektüre noch nicht.» Und fragte rhetorisch: «Ist es noch eine Zeit für solche sibyllinischen Bücher?»

Der bemerkenswerteste Widerspruch ist natürlich, dass dieser Dichter mit seinem hehren Habitus, der sich selber als unpolitisch bezeichnete, ausgerechnet wegen einer politischen Rede in Erinnerung blieb: «Unser Schweizer Standpunkt», gehalten vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft am 14. Dezember 1914 im Zunfthaus zur Zimmerleuten in Zürich, ist heute das einzige, was eine breitere Öffentlichkeit noch mit dem Namen Spitteler verbindet. 

Es war eine hochpolitische Rede und es war gleichzeitig eine tiefenpolitische Rede, denn in ihr spürt Spitteler dem Identitätskern unseres Landes nach: Der bemerkenswerten Tatsache, dass unsere politische Kultur mit ihren Institutionen und ihrer Wertschätzung der sprachlichen und kulturellen Vielfalt entscheidend ist für den nationalen Zusammenhalt. Das galt für die Schweiz von 1914, und es gilt erst recht für die heutige, noch vielfältigere Schweiz.

Spitteler realisierte, dass sich unser Land 1914 in einer gefährlichen Situation befand. Die Schweiz, mahnte Spitteler, müsse sich jeglicher Parteinahme für die kriegsführenden Mächte enthalten. Die kulturelle Verwandtschaft, heisst es weiter, «müsste ja, so wird uns bedeutet, von selber zur freudigen Parteinahme mit der deutschen Sache in diesem Kriege führen. Als ob es sich um Philologie handelte!»

Diese Mahnung richtete sich jedoch nicht nur an die Deutschschweizer, die in ihrer grossen Mehrheit das Deutsche Kaiserreich unterstützten. Sondern natürlich auch an die Romands, die sich ihrerseits mit Frankreich identifizierten.

Stattdessen gelte es, betonte Spitteler, die Miteidgenossen im jeweils anderen Landesteil als «Brüder» wahrzunehmen, die einem ungleich näherstünden als die «Nachbarn». Aus Sorge um die nationale Kohäsion plädierte Spitteler für eine «absolute Neutralität», was im damaligen Kriegskontext die einzig mögliche aussenpolitische Option war, aber keineswegs mit Isolationismus verwechselt werden sollte. Vielmehr spricht aus Spittelers Rede ein starkes Bewusstsein dafür, wie eng das Schicksal der Schweiz mit dem ihrer Nachbarn verknüpft ist.

Spitteler wusste, dass ihm diese Intervention in Deutschland, aber auch in vielen Kreisen der Deutschschweiz, massiv schaden würde. Das deutsche Publikum reagierte denn auch wie erwartet entrüstet. In einer Münchner Zeitung kanzelte der Leitartikler Spitteler ab: «Die Kunst dieses deutsch-schreibenden und im Herzen verwelschten Herrn mag so hoch stehen als sie wolle – sie geht uns fürder nichts mehr an!»

Wieso diese Welle der Empörung? Spitteler entsprach – zumindest in der Wahrnehmung des deutschen Bildungsbürgertums – genau dem Ideal des über allem Politischen schwebenden Dichters. Und jetzt entpuppte sich der herrliche Kulturmensch zum Entsetzen der deutschen Öffentlichkeit als frankophiler «Zivilisationsliterat» – um einen zu dieser Zeit geläufigen Begriff für engagierte Autoren zu verwenden, den auch Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ benutzt. Die staatspolitisch besorgte Haltung des Schweizers bildet eine interessante Kontrastfolie zu jener des damals patriotisch entflammten Thomas Mann, der 1929 für sein – ungleich bedeutenderes Werk – ebenfalls den Nobelpreis erhalten sollte.

Spittelers Rede bedeutete eine klare Zurückweisung des deutschen Nationalismus und Militarismus. Der Autor erinnerte gleichzeitig auch daran, wie stark Frankreich die Schweiz geprägt hat – ein gut gehütetes öffentliches Geheimnis, bis heute. In der Rede heisst es: «Und da doch so viel von Verwandtschaft die Rede ist, sind wir denn mit den Franzosen nicht ebenfalls verwandt? Die Gemeinsamkeit der politischen Ideale, die Gleichheit der Staatsformen, die Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Zustände, ist das nicht auch Verwandtschaft? Die Namen Republik, Demokratie, Freiheit, Duldsamkeit und so weiter, bedeuten diese einem Schweizer etwas Nebensächliches?»

«Unser Schweizer Standpunkt» war eine grosse Schweizer Standpauke. Ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Entfremdung im Innern, gegen die Vernachlässigung all dessen, was die Schweiz zusammenhält. Entweder, so Spitteler, nehme man den nationalen Zusammenhalt und die Neutralität ernst. Oder, ich zitiere: «Dann lasse man’s meinetwegen laufen, wie es geht und schlottert und lottert.»

Spitteler sah den in ganz Europa grassierenden Kulturnationalismus als das, was er war: Eine tödliche Gefahr für einen vielfältigen Staat wie die Schweiz, der alles tun musste, um die kulturellen Fliehkräfte unter Kontrolle zu halten. Er sprach aus, was eigentlich allen hätte klar sein müssen. Dass die Neutralität eine Identitätsklammer für die Schweiz war. Und dass die «politischen Gefühle», wie er das nannte, «den Miteidgenossen gelten mussten, und nicht den kulturellen Verwandten, und seien sie einem auch noch so nahe.»

Diese Unterscheidung erschien ihm als schiere Überlebensfrage; aber viele erkannten diese Gefahr damals (noch) nicht, sondern kaprizierten sich vielmehr darauf, als Lehnstuhlgeneräle und deutschtümelnde Ideologen am Krieg teilzunehmen. Wie heisst es doch in der Rede: «Zur Kriegsmunition zählt eben leider auch der Geifer». Auch an diese nicht sehr ruhmreiche Sekundär-Begeisterung der eigenen Landsleute für den Krieg sollten wir uns heute erinnern.

Der Name Spitteler steht für Zivilcourage: Oder genauer: Dafür, dass Feigheit vor dem Freunde eben nicht von Freundschaft zeugt, sondern von Feigheit.

Die Rezeptionsgeschichte von Spittelers Werk verlief seltsam: Denn Spitteler gilt vielen bis heute als biederer Patriot. Das ist ungerecht. Gerade der Autor einer Rede, die von Weltläufigkeit zeugt, gerade dieser Autor wurde später zum patriotischen Langweiler erklärt, mitschuldig an der – vermeintlichen oder realen – Miefigkeit des geistigen Klimas in der Schweiz während des Kalten Krieges. Verquer ist diese Diagnose auch, weil Spitteler ja rund sieben Jahre im Ausland gelebt hat – vor allem in St. Petersburg – und bei seiner Rückkehr vom «geistigen Klima» in der Schweiz enttäuscht war.

Spitteler wurde später zum Popanz all jener, die in der Schweiz an der Enge zu leiden glaubten. Tatsächlich jedoch war er deren Urahne. Das ist eine Ironie, die der Ironiker Spitteler sicher zu schätzen gewusst hätte.

In Spittelers vermeintlicher Verschrobenheit steckte auch eine grosse Kraft. In seinem Werk waren die Aussenseiter stets positiv besetzt. Sie bäumten sich gegen das Bestehende auf, sie trotteten nicht mit der Masse, sie glaubten daran, dass die Verhältnisse veränderbar waren. Die Schlusszeile des „Olympischen Frühlings“ lautet bezeichnenderweise: «Mut sei mein Wahlspruch bis zum letzten Atemzug! Mein Herz heisst „Dennoch».

Spittelers Engagement war gerade deshalb so kraftvoll und so glaubwürdig, weil er es als besorgter Bürger ausübte und nicht als politischer Routinier. Er war kein Dauerempörter, er hatte keine Meinungen auf Vorrat, er lebte nicht in der Überzeugung, ohne seinen Beitrag komme die Weltgeschichte vom Kurs ab. 

Vielleicht zeigt sich das echt Politische ja erst im Ernstfall. Die Schweiz ist ein Land, das vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger lebt. Sonst bleiben nur Prozesse ohne Richtung, Institutionen ohne Wert. Vernachlässigung geht bei uns an die Substanz des Staates – auch wenn es sich um wohlwollende Vernachlässigung handelt. Auch das wäre eine eminent schweizerische Erkenntnis. Dass die Politiker vielleicht nicht am meisten Ahnung haben von der Politik. Und dass engagierte Aussenstehende vieles besser begreifen als die Insider der Macht.

Als Spitteler realisierte, dass die Schweiz und ihr nationaler Zusammenhalt, mitunter ihre Existenz als Staat, gefährdet war, meldete er sich machtvoll zu Wort. Auch daran gilt es heute zu erinnern: Die Politik holt jeden ein – auch wenn er scheinbar weltentrückte Versepen verfasst.

Gerade in diesen Zeiten, in der die Demokratien vielerorts unter Druck stehen, wird die Frage wieder existenziell, ob man die Ereignisse als Zuschauer ihren Lauf nehmen lässt. Oder ob man als Bürgerin, als Bürger etwas tut. Ob man die Herausforderung anpackt. Oder ob man sich – still oder wortreich – wegduckt.

Spittelers Rede waren Betrachtungen eines – im Ernstfall eben doch – Politischen. «Tut um Gott’s Willen etwas Tapferes», rief Zwingli einst. Spitteler tat es. Nicht zuletzt deswegen ist Carl Spitteler eine grosse Schweizer Persönlichkeit.


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