Wider die Vorurteile über unsere eigene Zeit

Bâle, 10.10.2019 - Allocution du Conseiller fédéral Alain Berset. Seules les paroles prononcées font foi.

Das Basler Münster stellt uns vor gewichtige Fragen. Ich meine jetzt nicht nur Fragen nach dem Sinn unserer Existenz, nach Gott oder nach der Unendlichkeit. Nein, ich meine etwas Anderes: Das Basler Münster ist 67 Meter hoch. Das Zürcher Münster ist 62 Meter hoch.

Es braucht weder einen Euler noch einen Bernoulli, um festzustellen: das Basler Münster ist fünf Meter höher als das Zürcher Münster. Da fragt man sich natürlich: Wieso heisst das Zürcher Grossmünster nicht einfach Münster? Und wieso ist das Basler Münster nicht das Basler Grossmünster? Aber vielleicht sind sie ja gleich hoch. Vielleicht ist ein Meter ja je nach Kanton anders definiert. Man kann das nicht ausschliessen, wir haben bekanntlich einen starken Föderalismus…
 
Im Ernst: 1'000 Jahre Basler Münster – das flösst uns Ehrfurcht ein. Seit 1'000 Jahren wandelt es sich und bleibt dabei doch eine Konstante im Leben der Baslerinnen und Basler. Reich beschenkt und gefördert von Heinrich dem Zweiten, römisch-deutscher Kaiser, und Kaiserin Kunigunde, wurde das Basler Münster über die Jahrhunderte, immer wieder umgebaut, erweitert, neu ausgestaltet: Vom frühromantischen Heinrichsmünster über das spätromanische und das gotische Münster bis zum Münster des 20. Jahrhunderts, als unter anderem die spätromanische Bausubstanz wieder sichtbarer gemacht wurde. Dieses eindrückliche Bauwerk überstand die Reformationswirren und zahlreiche Anpassungen in der Liturgie.
 
Basel wäre ohne sein Münster schlicht unvorstellbar. Das zeigt: Unser Kulturerbe ist existentiell wichtig für unsere Gesellschaft. Mehr noch: Es ermöglicht erst Gesellschaft.
 
Der grosse Mediävist Georges Duby schreibt in «Europa im Mittelalter» über die Zeit, als das Basler Münster entstand: «An der Schwelle zum 11. Jahrhundert strebt die Menschheit aus ihrer Erniedrigung empor. Das Kunstwerk weist ihr die Richtung.» Dieses Streben nach Höherem – im Wortsinn – es berührt uns bis heute. Der Bau der Kathedralen fasziniert uns auch, weil er stets ein Vielgenerationenprojekt war. Die daran Beteiligten arbeiteten im Bewusstsein, dass sie die Vollendung kaum erleben würden. Was sie aber nie an der Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit zweifeln liess, weil ja nicht der Einzelne im Mittelpunkt stand, sondern Gott.
 
Dieser Ausdruck tiefer Frömmigkeit – er mag heute vielen von uns kaum mehr nachvollziehbar scheinen. Den Wettkampf um das grösste und schönste Bauwerk hingegen verstehen wir sehr gut. Zum Beispiel in der Rivalität um das höchste Hochhaus. Fünf Jahre lang war es der Prime Tower in Zürich. Seit 2015 ist es der Bau 1 hier Basel. Verblüffende Traditionslinien! Aber es ist nicht nur die Höhe, die uns in den Bann zieht: Unverändert aktuell ist auch die kreative Energie, die in diesem Wettstreit freigesetzt wird.
 
Das Basler Münster ist mehr als ein Wahrzeichen – es ist auch ein Baudenkmal, das uns daran erinnert, dass wir nie nur in einer Zeit leben. Auch unsere eigene Gegenwart ist zwiespältig. Es gibt etliche Entwicklungen, die uns tief beunruhigen – aber mindestens ebenso viele, die uns optimistisch stimmen. So ist die geopolitische Lage in den letzten Jahren zwar instabiler geworden – aber die Zahl der Kriegstoten ist historisch gesehen tief. Die Ungleichheit innerhalb der Gesellschaften nimmt zu – aber global gesehen vermindert sie sich. Das Internet offenbart erschreckende Abgründe – aber es steht auch für eine Demokratisierung der Debatten und eine potentiell globale Verbreitung von Bildung. Die digitale Revolution bedroht viele Arbeitsplätze – aber sie befreit uns auch von repetitiven Tätigkeiten.
 
Wohin wir auch schauen: Wir sehen ambivalente Entwicklungen. Deshalb sollten wir uns vor eindeutigen Narrativen hüten. Vor Vorurteilen also über unsere eigene Zeit, die uns nicht weiterführen, sondern die im Gegenteil unsere Handlungsmöglichkeiten einschränken. Und die unsere Weitsicht versperren. Eben jene Weitsicht, wie wir sie vom Basler Münster aus haben.
 
Vielleicht hat ja nicht ganz zufällig mit Jacob Burckhardt ein Basler den Begriff „terribles simplificateurs“ geprägt. Und nichts Anderes sind ja allzu eindeutige Erzählungen über den Zustand der Welt – als eben „schreckliche Vereinfachungen“. Lassen sich die Verhältnisse verbessern oder bleibt uns nichts Anderes übrig, als deren Niedergang zu beklagen? Es kommt auf uns an. Genauer: Auf unsere Denkprämissen.
 
In Zeiten von digitalem Umbruch und demographischem Wandel, von «fake news», gesellschaftlicher Spaltung und politischer Verbissenheit ist es entscheidend, nicht in die Falle der Eindeutigkeit zu tappen. Und uns – mit Optimismus! – darüber klar zu werden, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt. Denn es gibt immer Alternativen, auch und gerade in geschichtlichen Phasen, in denen die Macht des Faktischen erdrückend scheint.
 
Pessimismus können wir uns heute gar nicht mehr leisten.
Ebenso wenig den Rückzug ins Private. Also bleibt nur eines: Die Gegenwart als Phase in der langen Dauer des Geschichtlichen zu begreifen. Und angesichts dieser «longue durée» erscheint vieles in ganz anderem Licht. 


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