Ustertag 2023: Cérémonie commémorative à l'église (de)

Uster, 19.11.2023 - Discours du Conseiller fédéral Ignazio Cassis, chef du Département fédéral des affaires étrangères (DFAE) - Seul le texte prononcé fait foi

Sehr geehrter Herr Präsident des Ustertag-Komitees
Sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin
Sehr geehrte Frau Kantonsratspräsidentin
Sehr geehrter Herr Regierungspräsident
Sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Parlamente
Sehr geehrte Ustermerinnen und Ustermer

Der Ustertag ist für mich als FREISINNIGER natürlich ein ganz spezieller Gedenktag. Er erinnert uns an die liberale Revolution als entscheidenden Schritt in der Entstehungsgeschichte unseres Landes.

Nun, für mich ist der Ustertag nicht nur als Freisinniger etwas Spezielles, sondern auch als TESSINER Freisinniger. Denn bevor die liberale Revolution nach Frankreich, Belgien, Polen und natürlich Uster kam, zündete sie im Tessin! Das Tessin war der erste Kanton mit einer Verfassung, die die liberalen Werte wie Gleichheit vor dem Recht, Gewaltentrennung und Demokratie festschrieb.

Und schliesslich ist für mich der Ustertag noch aus einem dritten Grund speziell, nämlich als Tessiner Freisinniger BUNDESRAT. Die prägende Figur der Tessiner liberalen Revolution war der Lehrer Stefano Franscini, Der 1848 in den ersten Nationalrat und zum fünften Bundesrat gewählt wurde. Er war damit der erste Tessiner Bundesrat – ich darf nun der 8. Bundesrat aus dem Tessin sein.

Franscini hinterliess seine Spuren aber nicht nur im Tessin, sondern auch im Kanton Zürich. Er ist einer der Gründer – der Pädagoge drückt durch – der ETH Zürich. Noch heute gibt es an der ETH das Congressi Stefano Franscini.

Ich freue mich also als Freisinniger, Tessiner und Bundesrat dreifach, dass ich heute an diesem denkwürdigen Ort, in einer denkwürdigen Zeit, einige Worte an Sie richten kann. Ich bedanke mich herzlich für die Einladung!

Demokratie in der Krise

Geschätzte Damen und Herren, die liberale Revolution war eine Zeitenwende auf dem Weg zur Gründung unseres Bundesstaates. Es war aber noch ein steiniger Weg bis die erste Schweizer Verfassung in Kraft treten konnte. Auf die Revolution folgte eine Gegenrevolution und dann ein Bürgerkrieg.

Die aus heutiger Sicht unbestrittenen und identitären Werte unseres Landes, mussten zuerst hart erkämpft werden. Und in diesem Jahr feiern wir das 175. Bestehen unserer Bundesverfassung. Mit Blick auf die weltweiten Entwicklungen kann diese Leistung gar nicht überschätzt werden.

Uster – ich verwende das Wort als Synonym für die liberale Revolution - war nicht nur für die Schweiz eine Zeitenwende, sondern es war eine Zeitenwende für das Leben von Milliarden Menschen: Die liberale Revolution ebnete den Weg für den Siegeszug der Demokratie weltweit. Innerhalb von nur eineinhalb Jahrhunderten lebten mehr Menschen in Demokratien als in Autokratien. Und wo stehen wir heute?

Sie alle ahnen es: Um die Demokratie war es schon besser bestellt. Autokratisches Denken ist wieder «in» und verbreitet sich.

Gemäss der Menschenrechtsorganisation Freedom House blicken wir jetzt auf eine Periode von 17 Jahren zurück, in denen mehr Staaten Rückschritte in den politischen Freiheiten gemacht haben, als Staaten, die Fortschritte machten. 2022 standen 60 Staaten mit Rückschritten gegenüber von nur 25 Staaten mit Fortschritten. Heute lebt wieder eine knappe Mehrheit der Weltbevölkerung in einem autokratischen System.

Demokratien sind heute von aussen und von innen bedroht. Ich erinnere an die Ereignisse vom 6. Januar 2021 im Washington Capitol. Sie werden noch lange nachwirken. In Brasilia wurden sie bereits nachgeahmt.

Auch bei uns in Europa sehen sich liberale Demokratien mit Vertrauenskrisen konfrontiert. Populistische Strömungen – auch im ursprünglichen guten Sinn des Wortes - sind seit der Finanzkrise 2008 immer wieder aufgeflammt und haben nationale Parteienlandschaften umgepflügt. Die politische Elite steck oft in der Krise.

Diese Negativentwicklungen finden vor dem Hintergrund weitreichender machtpolitische Veränderungen statt. China ist mittlerweile die gleich grosse Volkswirtschaft wie die USA. Die Spannungen zwischen den beiden Grossmächten nehmen zu und es droht ein Handelskrieg.

Immer mehr Staaten wie Indien, Brasilien, Saudi-Arabien, Südafrika oder die Türkei möchten sich keinem dieser Machzentren zuordnen lassen. Sie maximieren ihren Handelsspielraum zwischen den Polen und fragmentieren damit die Welt weiter. Europa indessen hat sich auf altem Wohlstand ausgeruht und droht nun zerrieben zu werden. Die Dominanz des Westens ist zunehmend in Frage gestellt.

Gleichzeitig fällt es den multilateralen Gremien immer schwerer ihr Versprechen, den Frieden zu erhalten, einzuhalten. Die UNO steckt in der Krise und die OSZE ist gelähmt. Die europäische Sicherheitsarchitektur liegt in Trümmern. Angesichts der steigenden Verschuldung ist ihre Finanzierung zudem nicht sichergestellt.

Die internationale Ordnung droht immer mehr einer Weltunordnung zu weichen. Macht- und Geopolitik ersetzen das Völkerrecht. Konflikte brechen offen aus. Nach dreissig Jahren des Friedens flammen weltweit Konfliktherde auf: Ukraine, Armenien, Burkina Faso, Mali, Taiwan, Sudan, Westbalkan und jetzt kürzlich der Nahe Osten.

Geschätzte Damen und Herren, das ist, was heute mit Zeitenwende gemeint ist.

Antworten auf die Zeitenwende

Nun, die aufgezeigten Entwicklungen stellen die Schweizer Aussenpolitik vor grosse Herausforderungen – Interessenwahrung wird in dieser globalen Unordnung schwieriger. Die Verwaltung des aussenpolitischen Status quo ist keine Option. Die Schweiz muss Antworten auf die Zeitenwende formulieren.

Ich möchte drei Elemente hervorheben:

Erstens:
In einer polarisierten, fragmentierten und unsicheren Welt muss die Schweiz zur Interessenwahrung auch weiterhin mit allen Weltregionen Kontakte pflegen. Für unseren Wohlstand nimmt aber die Bedeutung der unmittelbaren Nachbarschaft – notabene der EU – eine noch grössere Bedeutung ein.

Unabhängig von der Weltlage, die EU und ihre Mitgliedstaaten werden immer unsere Nachbarn bleiben. Es ist ein Gebot der Vernunft, dass wir unsere Beziehungen stabilisieren. Damit stärken wir nicht nur die Grundlage unseres Wohlstands, sondern den ganzen Kontinent.

Der Bundesrat hat letzte Woche den Auftrag erteilt, nach rund 80 Sondierungsgesprächen auf der technischen, diplomatischen und politischen Ebene ein entsprechendes Verhandlungsmandat auszuarbeiten.

Zweitens:
Wir müssen agiler und doch fokussierter werden. Wir brauchen für die mittel- und langfristige Reaktionsfähigkeit eine fokussierte und kohärente Gesamtstrategie. Bereits in den letzten sechs Jahren hat der Bundesrat unter meiner Führung diverse solcher Strategien entwickelt.

Mit Blick auf die innenpolitischen Herausforderungen in Migration, Sicherheit und Wohlstand müssen wir unsere Politik insbesondere für den Nahen Osten, den Sahel und China überprüfen und neu denken.

Die aufflammenden Konflikte haben die Anzahl auf humanitäre Hilfe angewiesenen Menschen in die Höhe getrieben. Zwar ist es bereits heute möglich flexibel auf Krisen zu reagieren, Beispiele sind die Lugano Konferenz, das 100 Millionen Minenräumungspaket oder die 90 Millionen humanitäre Hilfe für die Situation im Nahen Osten, es ist unglaublich aufwändig und unsicher.

In der nächsten Strategie der internationalen Zusammenarbeit sieht der Bundesrat deshalb vor, erstens die Mittel für die humanitäre Hilfe aufzustocken und zweites mehr Mittel für den flexiblen Einsatz vorzusehen.

Schliesslich müssen wir uns in den multilateralen Gremien für Reformen und für einen fokussierten Multilateralismus einsetzen. Die Subsidiarität der Mitgliedstaaten muss respektiert und das Vertrauen in die Staatengemeinschaft gestärkt werden.

Drittens:
Der Kreis schliesst sich - Demokratieförderung muss wieder zu einem Schwerpunkt werden. Das ist eine Aufgabe, die uns auch die Bundesverfassung gibt. Die Schweiz kann und wird hier noch mehr machen.

Wie wichtig das ist, wird uns dann bewusst, wenn wir feststellen, dass bisher Demokratien keine Kriege gegeneinander geführt haben. Und Frieden ist die Grundlage für Freiheit und Wohlstand.

Wir helfen zum Beispiel bei der Durchführung von Wahlen. Vielleicht ist es aber besser, wenn wir uns beim Auszählen und Zusammenrechnen raushalten… Wir erklären, was Rechtsstaatlichkeit ist, wie Gewaltentrennung funktioniert und wie individuelle Rechte gelebt werden können. Wir können sie unterstützen, demokratische oder föderale Institutionen zu stärken.

Wir tun dies ohne missionarischen Eifer. Denn wer dem autokratischen Vormarsch ideologisch begegnet, hat schnell verloren. Aber wir können es überzeugt tun. Nicht, weil wir perfekt wären, sondern weil wir im Verlauf der Jahrhunderte einen diskreten Erfahrungsschatz gesammelt haben. Weil wir in unserem Land seit 175 Jahren tagtäglich beweisen, was eine Demokratie leisten kann - und dass Demokratie funktioniert.

Es ist also wichtig, dass wir nicht in einen westlichen «Kulturpessimismus» verfallen. Ich bin überzeugt, dass sich der aktuelle Negativtrend längerfristig wieder ins Positive wendet lässt und die liberale Demokratie ihren Siegeszug fortsetzen kann. Schliesslich muss – wenn früher alles besser war – das auch für die Zukunft gelten.

Ich bin fest davon überzeugt, dass liberale Demokratien im Wettbewerb der Systeme nach wie vor ein paar Asse im Ärmel haben.

Eines davon ist das Streben nach Freiheit: Die Freiheit ist eine mächtige Triebfeder in jeder Gesellschaft. So auch in unserer!

Blick in die Schweiz

Geschätzte Damen und Herren, an Tagen wie dem Ustertag, an welchem wir den Ursprüngen unseres Landes gedenken, muss man sich auch die Zeit nehmen etwas zu reflektieren. Wir sind das kompetitivste Land der Welt. Wir sind eines der reichsten Länder der Welt. Wir sind das innovativste Land der Welt. Wir sind eine der zufriedensten Gesellschaften weltweit.

Ich frage mich aber manchmal: Wissen wir noch woher unser Wohlstand kommt? Gehen wir fahrlässig damit um? Tragen wir unseren Errungenschaften genügend Sorge?

Ich möchte dies an drei Beispielen festmachen.

Erstens der Zerfall der Eigenverantwortung.

Eigenverantwortung ist die logische Konsequenz aus individueller Freiheit. Sie ist in einem liberalen Staat Ausdruck davon, dass der Staat seine Bürger als genügend mündig betrachtet, seine Probleme selbst zu lösen.

In den letzten Jahren wird aber der Schrei nach dem Staat immer lauter. Eigenverantwortung wird zum Schimpfwort. Für jedes Problem braucht es ein Gesetz. Zwischen Grundbedürfnissen und Selbstverwirklichung wird kein Unterschied mehr gemacht. Es kommt mir vor, als ob jemand die Maslowsche Bedürfnispyramide flachgedrückt hätte.

Der Staat ist aber keine Vollkasko-Versicherung für Individualbedürfnisse. Wir müssen davon wegkommen, unsere Bedürfnisse zu Ansprüchen zu machen. Und damit komme ich zum nächsten Punkt:

Zweitens die Verwässerung der Menschenrechte.

Ich erachte die Menschenrechte als Quantensprung der Menschheit. Jeder Mensch unabhängig der Zugehörigkeit zu Zunft, Klasse, Rasse, Geschlecht oder Herkunft kann sich auf fundamentale Rechte wie das Recht auf Leben, das Recht auf Bildung oder die Eigentumsgarantie berufen.

Leider besteht die reale Gefahr, dass wir die Menschenrechte selbstverschuldet relativieren. Einerseits werden im politischen Diskurs Bedürfnisse zu Menschenrechten stilisiert. Andererseits wird versucht statt individueller Rechte kollektive Rechte einer Bevölkerungsgruppe zu Menschenrechten zu manifestieren.

Solche Tendenzen relativieren die Menschenrechte. Sie verlieren ihre Glaubwürdigkeit und ihre Durchsetzungskraft. Wir dürfen unsere politischen Verteilkämpfe nicht auf dem Buckel der Menschenrechte ausfechten. Wie wollen wir autokratische Staaten dazu bringen die Menschenrechte einzuhalten, wenn wir diese zu einer Sammlung von Gesetzesartikeln degradieren, die unsere Erstwelt-Probleme lösen sollen?

Drittens: Vielfalt wird immer mehr zum Störfaktor.

Die Schweiz ist ein Land mit vier Sprachen und Kulturen, die friedlich zusammenleben. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass dies möglich ist. In vielen anderen Länder sind kulturelle und sprachliche Grenzen Brennpunkte an denen Konflikte entstehen. In der Schweiz hingegen haben wir einen Weg gefunden, andere Meinungen und Perspektiven einzubinden und damit einen Mehrwert für alle zu schaffen.

Das gilt im Grossen für die Schweiz als Willensnation, aber auch im Kleinen. Mit ausgeklügelten Mechanismen binden wir verschiedene Meinungen, Strömungen und Positionen in unsere politischen Prozesse ein. Wir sind dadurch vielleicht nicht immer das schnellste Land, aber es führt zu besseren Lösungen, hält unser Land zusammen und ist eine Bereicherung.

Je länger desto mehr werden andere Meinungen aber zum Störfaktor. Ich zitiere Mark Twain: «Wir schätzen die Menschen, die frisch und offen ihre Meinung sagen - vorausgesetzt, sie meinen dasselbe wie wir.»

Dadurch verschärft sich der politische Diskurs. Andere Meinungen werden nicht mehr angehört, sondern diffamiert und niedergeschrien und niedergeschrieben. Immer mehr Menschen fühlen sich «unwohl» im Beisein von Personen mit anderen Meinungen. Als Reaktion werden sie mundtot gemacht. Ich vermute aus Angst, dass die eigenen Argumente gegen die anderen keinen Bestand haben könnten.

Albert Camus meinte, dass es keine Freiheit gäbe, ohne gegenseitiges Verständnis. Recht hat er! Was hat Meinungsfreiheit für einen Sinn, wenn wir die Meinung anderer nicht anhören wollen?

Meinungsfreiheit ist keine Einbahnstrasse. Sie ist kein Monolog mit mir selber, sondern dient der Debatte mit anderen Meinungen. Sie zwingt uns, uns mit der Komplexität der Welt auseinandersetzen, das Denken in Schwarz und Weiss hinter uns zu lassen und Farbtöne zuzulassen.

Das schafft gegenseitiges Verständnis und damit die Möglichkeit unsere Position zu verlassen und einen Schritt auf das Gegenüber zuzumachen. Das bedingt Respekt, Geduld und – ich gebe es zu – manchmal auch Nerven. So aber funktioniert die Schweiz.

Geschätzte Damen und Herren, ich habe nie behauptet, dass Demokratie einfach ist. Demokratie ist eine Investition in eine friedliche Welt, weil das Wort der Waffe vorgezogen wird. Tragen wir ihr Sorge!

Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit, ich wünsche Ihnen einen frohen Ustertag!


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