"Recht muss nicht nur gesetzt, sondern gelebt werden"

Berne, 02.11.2021 - Congrès national sur la violence, Berne; Conseillère fédérale Karin Keller-Sutter - la parole prononcée fait foi

Sehr geehrte Frauen Nationalrätinnen
Sehr geehrte Frau Regierungspräsidentin
Sehr geehrte Frau Stadtpräsidentin
Sehr geehrte Damen und Herren
Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer

Auch von meiner Seite begrüsse ich Sie ganz herzlich zur nationalen Konferenz "Neue Rechtsgrundlagen zum Schutz vor Gewalt". Die Bekämpfung von Gewalt und von häuslicher Gewalt im Besonderen hat für mich seit vielen Jahren eine hohe Priorität. Zuerst als junge Regierungsrätin im Kanton St. Gallen, heute als Bundesrätin.

Lassen Sie mich etwas ausholen.

Kürzlich traf ich - anlässlich der Feier zu 50 Jahren Frauenstimmrecht - sechs Jungbürgerinnen und Jungbürger aus allen Regionen der Schweiz. Wir diskutierten unter anderem die Frage, wo es denn aus ihrer Sicht heute noch an Gleichberechtigung von Mann und Frau mangelt. Es stellte sich heraus, dass es gar nicht primär um ungleiche Rechte geht, sondern eher um fehlende Gleichstellung im Alltag. Ich erinnere mich ganz besonders an die Aussage eines jungen Mannes. Er sagte, er habe Mühe damit, dass sich seine Schwester nachts nicht so frei bewegen könne wie er, weil sie Angst habe.

Was diese junge Frau erlebt, erleben viele andere Frauen auch.

Das Centre for Security Studies der ETH Zürich misst alljährlich die sogenannte "Kriminalitätsfurcht" der Schweizer Wohnbevölkerung. Dazu stellt es in einer repräsentativen Stichprobe jeweils die Frage: "Wie sicher fühlen Sie sich, wenn Sie nach Einbruch der Dunkelheit alleine zu Fuss in Ihrer Wohngegend unterwegs sind? Fühlen Sie sich sehr sicher, eher sicher, eher unsicher oder ganz unsicher?"

Die gute Nachricht ist: 90 Prozent der befragten Personen in der Schweiz fühlen sich "sehr sicher" oder "eher sicher". Es gibt aber signifikante Unterschiede zwischen Frauen und Männern. So fühlen sich 63 Prozent der Männer "sehr sicher", bei den Frauen sind es nur 33 Prozent.

Dieser Unterschied in der subjektiven Wahrnehmung ist bemerkenswert. Denn Männer haben statistisch gesehen ein grösseres Risiko als Frauen, Opfer einer Straftat zu werden. Die Forschung erklärt diese Diskrepanz unter anderem damit, dass Frauen gefährliche Situationen eher meiden, dass sie sich vulnerabler fühlen und ihre Fähigkeit, eine Gefahr abwehren zu können, tiefer einschätzen als Männer.

Es gibt aber zwei Bereiche, wo sich die höhere Kriminalitätsfurcht der Frauen unabhängig von diesen Erklärungen mit der Polizeilichen Kriminalstatistik deckt. Nämlich bei der häuslichen und bei der sexuellen Gewalt. Bei der häuslichen Gewalt sind 70 Prozent der Opfer weiblich. Bei der sexuellen Gewalt ist der Anteil weiblicher Opfer nochmals höher.

Unsicherheit schränkt die Freiheit ein, Angst lähmt. Bei der häuslichen Gewalt kommt hinzu, dass man sich nicht einmal in seinen eigenen vier Wänden sicher fühlen kann.

Nun wurde in den vergangenen Jahrzehnten bereits sehr viel getan. 2003 wurde im Kanton St. Gallen das erste Gesetz zur Wegweisung bei Häuslicher Gewalt eingeführt. Seit 2004 sind Straftaten im Bereich der Häuslichen Gewalt Offizialdelikte. Weil die Polizei bei einem Verdacht von Amtes wegen ermitteln muss, wurde das Problem auch sichtbarer. Aber auch beim Opferschutz, bei der Besserstellung des Opfers im Strafverfahren gab es grosse Fortschritte und die meisten Kantone haben ein Bedrohungsmanagement.

Wir verfügen heute im Prinzip über die rechtlichen Instrumente, um Frauen, aber auch Männer und Kinder zu schützen. Dennoch ist es eine Tatsache, dass im Schnitt alle zwei bis drei Wochen eine Frau wegen häuslicher Gewalt stirbt. In diesem Jahr werden es noch mehr sein.

Gerade als Vorsteherin des EJPD unterstütze ich daher zusätzliche Bestrebungen im Kampf gegen die sexuelle und die häusliche Gewalt.

Ich komme ganz kurz auf die jüngsten Entwicklungen auf rechtlicher Ebene zu sprechen. Hier ist auf Stufe Bund z.B. das Bundesgesetz über die Verbesserung des Schutzes gewaltbetroffener Personen zu erwähnen. Dieses behebt bestehende Schwachstellen in Zivilgesetzbuch, Zivilprozessordnung, Strafgesetzbuch und Militärstrafgesetz. Ziel ist es, Personen noch besser vor häuslicher Gewalt und Stalking zu schützen. Neu ist seit dem 1. Juli 2020 etwa:

  • die Neuregelung der Sistierung und Einstellung von Strafverfahren wegen leichterer Delikte in Paarbeziehungen (Art. 55a StGB, Art. 46b MStG);
  • die Möglichkeit, für die Zeit der Sistierung ein Lernprogramm gegen Gewalt anzuordnen.

Erwähnenswert ist sicherlich auch Artikel 28c des Zivilgesetzbuches, der auf den 1. Januar 2022 in Kraft treten wird und den Kantonen ermöglicht, zivilrechtliche Kontakt- und Rayonverbote elektronisch zu überwachen.

Es laufen im Moment weitere Gesetzgebungsprojekte. Zu erwähnen ist sicher die Revision des Sexualstrafrechts. Die vor kurzem durchgeführte Vernehmlassung hat den Reformbedarf bestätigt. Die Rechtskommission des Ständerats führt die Arbeit an der Vorlage in diesem Quartal weiter. Ich begleite diese Arbeiten eng und bin persönlich zuversichtlich, dass man eine gute Lösung finden wird. Handlungsbedarf ist aus meiner Sicht jedenfalls gegeben.

Weitere Ausführungen zur Gesetzgebung auf Bundesebene wird Frau Kuster in ihrem Referat machen.

Aber nicht nur der Bund, sondern auch die kantonalen Gesetzgeber waren im Bereich des Polizeiwesens und des Gewaltschutzes tätig. Regierungspräsidentin Fehr wird in ihrem Referat auf diese rechtlichen Grundlagen in den Kantonen eingehen.

Hervorheben möchte ich bei dieser Gelegenheit die gute Zusammenarbeit mit den Kantonen. Wie Sie sicherlich wissen, sind für die Prävention und den Schutz vor häuslicher Gewalt in erster Linie die Kantone zuständig, die Polizeihoheit liegt bei ihnen; ebenso für die Strafverfolgung und die Einrichtung von Anlaufstellen und Notunterkünften für die Opfer. Der Bund ist hingegen für die Gesetzgebung in Zivil-, Straf- und Opferhilferecht zuständig. Er nimmt zudem gewisse Oberaufsichts- und Koordinationsfunktionen wahr im Bereich des Vollzugs.

Das Potential der Zusammenarbeit Bund-Kantone beim Vollzug zeigte sich auch beim strategischen Dialog "Häusliche Gewalt".

Mein Departement begann mit den zugehörigen Arbeiten vor ungefähr zwei Jahren. Und zwar aus der Überzeugung, dass es zur besseren Bekämpfung von häuslicher Gewalt nicht einen grossen gesetzgeberischen Wurf braucht, sondern primär den politischen Willen aller Akteure, die bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten gegen die häusliche Gewalt auszuschöpfen und konsequent anzuwenden. Auch geht es darum, voneinander zu lernen und best practices zu erkennen.

In einer Begleitgruppe waren alle relevanten Akteure vertreten, wie zum Beispiel das EDI mit dem Eidgenössischen Büro für Gleichstellung, Expertinnen und Experten der Kantone sowie Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft. Im April dieses Jahres kamen wir nach intensiven Vorarbeiten zum eigentlichen Strategischen Dialog zusammen und unterzeichneten eine Roadmap. Die Roadmap enthält zehn Handlungsfelder, in denen der Bund und die Kantone in ihren Zuständigkeitsbereichen Verbesserungen anstreben. Ich erwähne beispielhaft die Nutzung des technologischen Fortschritts, das Sicherstellen eines qualitativ hochstehenden Bedrohungsmanagements sowie die Unterstützung und Begleitung der Opfer im Strafverfahren. Die Road Map enthält zudem ein Handlungsfeld, das sich spezifisch dem Schutz von Kindern widmet, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Ein wichtiges Thema, mit dem Sie sich ja auch der heutigen Konferenz auseinandersetzen.

Ein weiteres Thema, das die Roadmap aufnimmt, ist die Tatsache, dass unter den Tätern und Opfern von häuslicher Gewalt die ausländische Wohnbevölkerung gemäss Kriminalstatistik überproportional vertreten ist. Das ist ein schwieriges Thema und die Zusammenhänge sind vielschichtig. Aber möchte man häusliche Gewalt effektiv bekämpfen und die Opfer schützen, braucht es hier eine ganz gezielte Informationsarbeit.

Die Arbeiten zur Umsetzung der Roadmap sind inzwischen gut angelaufen. Auf Bundesebene zu erwähnen sind sicherlich der Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, über den Frau Durrer noch sprechen wird; aber auch die Kantone machen bereits Nägel mit Köpfen: So haben sie sich beispielsweise zusammen mit dem Verein Electronic Monitoring bereit erklärt, den Opfern Notfallknöpfe zur Verfügung zu stellen. Ich begrüsse diese Bereitschaft. Ich bin überzeugt, dass der technische Fortschritt für den Schutz der Opfer nutzbar gemacht werden kann. Der Dialog im Rahmen der Road Map hat die Bereitschaft der Kantone gefördert.

Und die Sozialdirektorenkonferenz prüft, wie sich eine zentrale Telefonnummer für die Opfer von Straftaten einführen liesse. Dazu setzte sie eine Arbeitsgruppe aus Fachleuten von Bund und Kantonen ein.

Geschätzte Damen und Herren

Ich komme zum Schluss. Es wurde in den letzten Jahrzehnten, ich habe es gesagt, viel gemacht und auch erreicht; sowohl in der Gesetzgebung als auch im Vollzug. Die jährlichen Kriminalstatistiken zeigen aber, dass man die Hände nicht in den Schoss legen kann. Recht muss nicht nur gesetzt, sondern gelebt und in die Praxis umgesetzt werden, wenn sich die Situation für die Betroffenen im Alltag effektiv verbessern soll. Man wird Gewalt zwar nie aus einer Gesellschaft verbannen können. Aber es ist bereits viel gewonnen, wenn sich die eine oder andere Person wenigstens in ihren eigenen vier Wänden wieder sicherer fühlen kann.

Diese Konferenz zeigt, wie viele Akteure hier eine wichtige Rolle spielen: Neben meinem und anderen Departementen sowie den Kantonen sind dies namentlich die Staatsanwaltschaften, die Gerichte, die Polizei, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden, aber auch die Opferanwältinnen und -anwälte, sowie weitere Fachleute im Bereich Prävention und Bekämpfung von Gewalt.

Es braucht das Engagement aller Akteure, um gewaltbetroffene Menschen noch besser zu schützen. Ich bin überzeugt, diese Konferenz wird ihren Teil dazu beitragen. In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine spannende und lehrreiche Tagung.

 


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