Flexibilität, Bescheidenheit und Selbstbewusstsein

Berne, 31.07.2021 - Discours du conseiller fédéral Alain Berset à l'occasion de la fête nationale. La version française sera prononcée le soir du 1er août à Gruyères.

Unsere vielbeschworene Solidarität wurde in den letzten 18 Monaten wirklich getestet. Und wir haben diesen Test bestanden. Wir haben harte Erfahrungen gemacht, viel Unsicherheit erlebt und gelernt, damit umzugehen.

Diese Krise ist noch nicht ausgestanden. Trotzdem: Wir können mit Zuversicht die nächsten Herausforderungen angehen. Wir übernehmen Verantwortung im Kampf gegen das Virus. Unsere Gesellschaft geht trotz hitziger Debatten und viel Leid gestärkt aus dieser Krise hervor. Es ist die Solidarität, die uns stark macht. Ohne Gemeinschaft kein Gemeinwohl. Wir haben als Gesellschaft Erfolg – oder wir scheitern als Einzelne.

Es braucht diesen Sinn für Verantwortung, für Solidarität, für unseren Platz in der Welt – auch in unserem politischen Alltag. Die Welt nach Covid wird noch mehr eine Welt in Bewegung sein.

Wenn wir in dieser Welt erfolgreich sein wollen, müssen wir auf die Kompetenzen setzen, die uns weitergebracht haben: Unsere Fähigkeit, uns auf internationale Entwicklungen frühzeitig einzustellen. Unser strategisches Geschick, uns immer wieder neu zu positionieren und damit ein Stück weit neu zu erfinden.

Die Pandemie hat uns Flexibilität abverlangt, wie auch Bescheidenheit und Selbstbewusstsein: All das werden wir auch künftig brauchen. Der Historiker Herbert Lüthy hat vor rund 50 Jahren dazu aufgefordert, „die Geschichte als einen Prozess zu sehen, in dem wir selbst stehen und an dessen Weitergestaltung wir mitwirken“. Wir sind zu klein, um unsere Umwelt so gestalten zu können, wie wir sie möchten. Aber wir sind viel zu gross und viel zu stark, um uns mit der Rolle des gleichgültigen Beobachters zu begnügen.

Alles spricht dafür, auch heute mit Optimismus und Mut die Herausforderungen anzupacken, mit denen wir uns konfrontiert sehen. Verzagtheit oder Passivität können als plausible Haltungen erscheinen angesichts der allgemeinen Verunsicherung: Klimakrise. Geopolitische Instabilität. Flüchtlingsströme. Eine drohende Wirtschaftskrise. Und ein Virus, von dem wir genug haben – aber das wir noch nicht unter Kontrolle haben.

Sollen wir also in die Defensive gehen? Uns an das Erreichte klammern? Oder wollen wir weitermachen, unbeirrt, optimistisch, mutig? Die Frage stellen heisst sie beantworten.

Gewiss: Die Versuchung der Besitzstandwahrung, der kleinen Fluchten vor dem bedrohlichen grossen Ganzen ist heute so stark wie kaum je zuvor. Klar, man kann den Blick abwenden, man kann versuchen, sich ins Private zurückzuziehen. Aber das alles kümmert die Realität nicht, sie prägt unser Leben trotzdem. Sei es durch die Kräfte der Natur. Sei es durch politische oder wirtschaftliche Entwicklungen. Ja, wir sind ein Hort der Stabilität – aber nicht, weil wir ein statisches Land sind. Im Gegenteil: Weil wir seit jeher ein Land sind, das in einer dynamischen Umwelt ebenfalls dynamisch wird und gerade deshalb stabil bleibt.

Wir dürfen uns gerade auch heute ab und zu fragen: Wie hätten eigentlich unsere Vorfahren gehandelt unter ähnlichen Umständen? Hätten sie sich an der Vergangenheit festgeklammert wie an einer Boje in unruhigem Wasser? Nein! Sie hätten unser Land neu positioniert, damit es zu den Gewinnern von morgen gehört. Sie hätten ihr Bestes gegeben, damit die Schweiz erfolgreich bleibt – gerade auch in schwierigen Zeiten.

Denken wir daran, dass die Gründung des Bundesstaates 1848 – immerhin nach einem Bürgerkrieg – ein Akt von grossem Optimismus und des Vertrauens in die Zukunft war. Erinnern wir uns, dass die Schweiz – gleich nach dem Vereinigten Königreich – jenes Land war, das sich am frühesten industrialisierte. Vergegenwärtigen wir uns den Innovationsgeist und die unternehmerische Kraft der Generationen vor uns, die die Schweizer Industrie aufgebaut und schon früh globale Märkte erobert haben. Denken wir an die Schweiz, die in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts den entscheidenden Stellenwert der Bildung erkannte und die ETH gegründet hat – ein Jahrhundert später dann auch noch die EPFL.

Nicht auf die Welt von morgen warten – sondern kaum darauf warten können, bis die Welt von morgen endlich anbricht: Das ist die Denkweise, die uns stark gemacht hat. Das ist die Haltung, die wir auch heute brauchen. Lassen Sie uns vorwärts schauen auf das, was kommt – mit Neugier.

Eine zukunftsfreudige Schweiz ist auch eine Schweiz, die ihre Traditionen pflegt und weiterentwickelt. Viele dieser Traditionen, die unsere Identität stärken, sind im Prozess der Verflechtung und Abgrenzung mit unseren Nachbarstaaten entstanden – und darüber hinaus mit dem ganzen Kontinent. Wir sind seit Jahrhunderten Impulsen, Ideen und inspirierenden Einflüssen aller Art ausgesetzt – wegen unserer geographischen Position mitten in Europa. Diese Lage ist unsere grosse Stärke. Wir sind ein – nein: wir sind der Knotenpunkt, an dem wirtschaftliche, gesellschaftliche, kulturelle zusammenkommen. Und sich gegenseitig befruchten.

Sicher: Diese geographische Lage mitten auf diesem Kontinent mit seinen historischen Wechselfällen ist anspruchsvoll. Man muss stets alert bleiben, die Zeichen der Zeit erkennen, Chancen packen, bevor alle anderen sie auch sehen und sie aufhören, Chancen zu sein.

Das gilt im Wirtschaftlichen. Und das gilt auch im Politischen. Momentan sieht unser Verhältnis zur EU kompliziert aus.

Aber vergessen wir nicht: Es gibt so viele gemeinsame Interesse mit unseren Nachbarn und Freunden, dass wir gar nicht anders können, als aufeinander zuzugehen. Früher oder später. Wir waren in unserer Geschichte stets aufeinander angewiesen; wir sind es selbstverständlich auch heute noch – und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.

Auch in dieser Frage braucht es also eine Haltung, die gleichzeitig bescheiden und selbstbewusst ist. Mit dieser Mentalität können wir auch die immensen Herausforderungen anpacken, die auf die Welt zukommen – und die auch unser Land prägen werden. Unsere Überlegungen, unsere Lösungsansätze international einzubringen – zum Beispiel im UNO-Sicherheitsrat – könnte ein wertvoller Beitrag unseres Landes sein zur Stabilität in volatilen Zeiten.

Das Virus hat die hochgradig Verflochtenen, die eng Vernetzten besonders stark getroffen – also auch die Schweiz. Die internationale Verflechtung hat viele Vorteile für unser Land. Vom gegenseitigen Ideentransfer auf zahlreichen Gebieten bis zu beträchtlichen Wohlstandsgewinnen. Aber diese Verflechtung birgt eben auch Risiken. Ich bin überzeugt: Wir sind pragmatisch genug, um das gegeneinander abzuwägen – und nicht in Abwehrreaktionen zu verfallen.

Die Pandemie ist erst dann vorbei, wenn sie überall auf der Welt vorbei ist. Wir sind aufeinander angewiesen in dieser dramatisch schrumpfenden Welt. Die Schweiz setzte sich seit Beginn der Pandemie ein für eine globale Lösung zur gerechten Verteilung von Covid-19-Impfstoffen und unterstützt diese. Zur Versorgung der Schweizer Bevölkerung steht ausreichend Impfstoff zur Verfügung. Je mehr wir diese Möglichkeit nützen, umso besser können wir diese Pandemie bewältigen, andere und uns selber schützen.

Wir haben am Anfang dieser Pandemie zu drastischen Mitteln greifen müssen, um den ersten Schock abzudämpfen. Auch damals und insbesondere danach hat der Bundesrat stets auf die Eigenverantwortung der Leute gesetzt – und damit auch auf den Gemeinsinn, der unser Land stark gemacht hat.

Gemeinsinn entsteht, wenn jede und jeder erkennt, wie das eigene Handeln künftige Entwicklungen mitprägt. Und Eigenverantwortung kann nur wahrnehmen, wer Alternativen hat. Die Wahl zu haben, ist entscheidend: Will man Wirtschaftshilfe in Anspruch nehmen? Will man sich impfen oder regelmässig testen lassen - sei es, weil man sich dadurch selbst schützt, sei es, weil man andere schützen will. Oder sei es, weil man einen Beitrag dazu leisten möchte, dass wir diese Pandemie in absehbarer Zeit hinter uns bringen können.

Gleiches gilt für das Covid-Zertifikat: Jede und jeder von uns soll selber entscheiden können, ob er oder sie dieses brauchen will oder nicht. Nur mit Eigenverantwortung und Wahlmöglichkeit kann echter sozialer Zusammenhalt entstehen – Zwang ist keine Option. Der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen muss für alle gewährleistet sein. Darauf müssen wir uns verlassen können.

Für die Schweiz war diese lange Phase der Unsicherheit wohl anspruchsvoller als für andere Länder. Wir haben uns über Jahrzehnte daran gewöhnt, dass alles stabil ist, dass alles perfekt funktioniert. In den letzten rund eineinhalb Jahren wurde dieses historisch nachvollziehbare, aber trotzdem trügerische Selbstbild etwas korrigiert.

Gut so. Wir leben in zunehmend volatilen Zeiten und dafür braucht es einen selbstkritischen und flexiblen «mind-set». Eine Kultur, die Fehler als Anlass versteht, dazuzulernen, besser zu werden.

Die momentane Verunsicherung macht uns langfristig wieder sicherer – falls wir handeln. Verunsicherung kann lähmen. Aber Verunsicherung kann auch dazu anspornen, nicht einfach den Status quo zu verwalten.

Das gilt für eine konstruktive Politik im Äussern. Das gilt für das Engagement für eine faire Gesellschaft im Innern. Das gilt für einen verstärkten Kampf für echte Gleichberechtigung. Das gilt für eine Umweltpolitik, die den Klimawandel wirklich ernst nimmt. Und die entschlossen gegen das Wachstum der Gesundheitskosten antritt. Und es gilt für die Reform der Altersvorsorge.

Die Schweiz hat sich in der Krise bewährt. Und sie wird sich auch nach dieser Krise bewähren.


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