Was die Schweiz zusammenhält

Ftan, 29.01.2016 - Referat von Bundeskanzler Walter Thurnherr

Besten Dank für die Einladung, hier in Ftan zu diesem, wie ich meine, doch entscheidenden Thema des Zusammenhalts in der Schweiz zu sprechen. Wenn man in internationalen Organisationen oder innerhalb von Familien und Partnerschaften beginnt, den Begriff „Zusammenhalt" zu erörtern, ist das in der Regel ein untrügliches Zeichen dafür, dass es kriselt. Und auch wenn in der Schweiz in den letzten 170 Jahren manche Zankerei vor allem dank grosszügigen finanziellen Kompensationen bewältigt werden konnte, und es sich folglich nicht ganz offensichtlich präsentiert, wie es aktuell um den tatsächlichen Zusammenhalt bestellt ist, wenn uns die finanziellen Mittel dazu fehlen sollten, so freut es mich trotzdem, bzw. gerade deshalb ganz besonders, dass der Anlass meiner kurzen Rede hier ein positiver ist und nicht der Ausdruck eines schmerzlichen Zerwürfnisses.

Die Frage des Zusammenhalts wird nicht nur in der Schweiz, aber auffällig häufig in der Schweiz gestellt, weil diese so heterogen ist und bekanntlich die eine hervorstechende Eigenschaft fehlt, die uns von allen anderen Ländern unterscheidet. Bis sehr lange, bis weit nach der Schaffung des Bundesstaates war „Schweizer sein" auch für Schweizer selbst gar nicht so eine erstrebenswerte Sache. Man war in erster Linie Urner oder Zürcher oder Berner. In der mit der Revision des Bundesvertrags beauftragten Kommission von 1848 war man sich - wie es bei Bonjour heisst - zwar einig, „dass die Idee, nach welcher die Schweizer berechtigt sein sollen, in jedem Kantone nach Belieben sich niederzulassen und so die ganze Schweiz als Heimatlande betrachten zu dürfen,.. auf die Dauer kaum mehr zurückzuweisen sein dürfte", aber für manche Kantone, welche diesem Grundsatz bis dahin nicht anerkannt hatten, gab es dann doch erhebliche „Bedenklichkeiten". Ein Luzerner war schon ein Schweizer, aber ihm deswegen gleich das Niederlassungsrecht in Basel geben?! Man konnte es auch übertreiben.

Bis lange ins 20. Jahrhundert hinein hat sich denn auch eine Wahrnehmung erhalten, welche es dem Simmentaler schwer machte, den Thuner als seinesgleichen zu betrachten. Dem Engadiner war der Rheintaler genau so fremd wie dem Genevois der Lausanner, dem Schwarzbuben der Solothurner, dem Mann aus Losone der Mitbürger aus Lugano. Und noch fremder, für heutige Verhältnisse unvorstellbar fremd, war ihm einer, der protestantisch statt katholisch war, oder umgekehrt. Von Zusammenhalt konnte damals keine Rede sein, eher von Zufall, dass nämlich der über Jahrhunderte geführte Streit um den richtigen Glauben nicht zu einer richtigen Spaltung führte. In vielerlei Hinsicht wurde unser Land sogar von uns Schweizern nur noch als Einheit erkannt, wenn man es von weit aussen betrachtete. Irgendwo im wilden Amerika oder in den Weiten Russlands war einem der Oberwalliser plötzlich viel vertrauter als dies in Bern der Fall gewesen wäre. Und zuweilen kehren anfänglich  misstrauische  Nationalratskollegen der verschiedenen Sprachregionen noch heute von gemeinsamen Auslandreisen der parlamentarischen Kommissionen als enge Verbündete zurück, als hätten sie den ungeheuren Härten der Fremde erfolgreich getrotzt und als wäre ihnen erst dort so richtig bewusst geworden, dass sie eigentlich zusammengehörten.

Ein Rest vom exklusiven Lokalpatriotismus ist bis heute geblieben. Nur ein Beispiel: Wenn Bundesbern in irgend einer Region der Schweiz ein grosses Infrastrukturprojekt finanziert, sei es eine Autobahn oder ein Eisenbahntunnel, dann wird man im Bundeshaus mit grosser Wahrscheinlichkeit von einer anderen Region Besuch einer Delegation erhalten, welche höflich aber durchaus deutlich verständlich auf den Umstand hinweist, wonach man nun genug für die Bündner, die Zürcher oder die Berner gebaut habe, jetzt komme hoffentlich die eigene Region auch wieder einmal zum Zug (es sei denn natürlich, bei dem Infrastrukturprojekt handelt es sich um ein Tiefenlager für mittel- und hochradioaktive Abfälle). Bis zu einem gewissen Grad werden Sie das in jedem Land feststellen. Und mir geht es auch nur darum anzumerken, dass es bei uns nicht anders ist als anderswo. Aber nicht ganz unwichtig scheint mir der Hinweis trotzdem, weil es eben einen Unterschied gibt zwischen zusammenhalten und nebeneinanderleben. Und weil wir unseren Zusammenhalt gerne als selbstverständlich voraussetzen, was er meines Erachtens nie war und auch heute nicht ist.

Was also hält die Regionen, hält unser Land sozusagen „trotzdem" zusammen? Es gibt mehrere Gründe, ich nenne nur vier:

Erstens, der Föderalismus. Dieser ist eine kluge Einrichtung. Nicht nur, weil er einen Wettbewerb von Ideen und Modellen zulässt. Volkswirtschaftlich, das stellt auch der eine oder andere EU Beobachter fest, der ihn dort vermisst, ist der Föderalismus als Treiber und Wühler nicht zu unterschätzen. Aber eben nicht nur deshalb, sozusagen aus ökonomischer Perspektive, sondern weil er gleichzeitig die politischen Freiheiten maximiert, möglichst viel an Selbstbestimmung ermöglicht, ohne damit die Einheit zu gefährden: „ Der Föderalismus", meinte Dürrenmatt, „ist das notwendige Gegengewicht zum Zentralismus. Ich halte die Dramatik Föderalismus-Zentralismus für wichtig. Nur Föderalismus ist tödlich, nur Zentralismus ist langweilig". Wo dazwischen die beste Grenze liegt, ist umstritten. Bekanntlich befürchten einzelne Kantone, immer mehr zu reinen Vollzugsgebieten eidgenössischer Entscheidungen abgewertet zu werden. Andere, wie etwa der Historiker Herbert Lüthy, haben dafür nur wenig Verständnis: „Das föderalistische Unbehagen", schrieb er schon vor über 50 Jahren mit gespitzter Feder, „ist vielmehr das Streitross einer diffusen, in keiner konstruktiven Instanz verkörperten, rein ideologischen Fronde von Neinsagern geworden, der jede bundesstaatliche Bewältigung gesamtschweizerischer Aufgaben ein Greuel und ein Sündenfall des Föderalismus ist.. Es scheint oft, dass wir das Ereignis des Bundesstaates noch immer nicht recht verdaut haben, dass unser Föderalismus im Grunde ein Antiföderalismus.. und „der Bund" wenn nicht der Feind, so doch ein notwendiges Übel geblieben ist".
Wie auch immer die richtige Aufgabenteilung heute aussieht, in der Vergangenheit hatte es die Beschränkung bundesweiter Regelungen auf ein Minimum erlaubt, die unterschiedlichsten Gebiete und Regionen zusammenwachsen zu lassen, sich aneinander zu gewöhnen, das heisst über lange Zeiträume die Erkenntnis wachsen zu lassen, dass die andern schon anders sind, aber dann doch nicht so verschieden. Dass man die Integration politischer Einheiten auch überstürzen kann, statt sie behutsam über Generationen zu begleiten, sieht man an verschieden Orten der Welt. Aber solche Projekte sind eben wenig geeignet für wirkungsvolle Pressekonferenzen, sondern sind das Resultat eines geduldigen Föderalismus.

Zweitens, die direkte Demokratie. Es gibt eine Stelle in einem Aufsatz von Gottfried Keller, welche ich Ihnen trotz des Risikos, dass Sie der historischen Betrachtung langsam überdrüssig werden, in diesem Zusammenhang nicht vorenthalten möchte. Ein Schreiben, in dem er den Nutzen der politischen Beteiligung der Bevölkerung  mit der Wirkung eines „wohltätigen Sauerteigs" des öffentlichen Lebens beschreibt: „Als das schweizerische Volk durch die neue Bundesverfassung 1848 einen vorläufigen Abschluss und Sieg errungen hatte nach langen politischen Kämpfen um die schmale Linie, auf welcher Zentralisation und Föderalismus einander am füglichsten die Hand reichen, ruhte es auf diesen Lorbeeren nicht träge und selbstzufrieden aus, sondern es begann in den einzelnen Kantonen sofort ein munteres Revidieren der Verfassungen... Die Aargauer laborierten vier Jahre an einer Verfassung, verwarfen den Entwurf ein halbes dutzendmal und brachten schliesslich wenig genug heraus. Ein allgemeiner Krieg von Grundsätzen gegen Grundsätze entspann sich auf dem unblutigen Boden der Wahlkirchen und Vetokirchhöfe und auf den grünen Wiesen der vorzeichnenden Volksversammlungen. Alte Matadore gerieten in Misskredit, neue liefen sich die Hörner ab; das Volk verharrte als eine friedliche, aber halb unruhig wogende, halb rätselhaft stumme Masse und zeigte in dieser holden Verwirrung vielleicht zum ersten Mal, dass es anfange zu merken, dass eine Verfassung kein Schuhnagel sei. Dies ist schon sehr viel...denn nicht sowohl in der Geläufigkeit, mit welcher man ein Gesetz entwirft und annimmt, sondern in der Ehrlichkeit, Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit, mit welcher man es zu handhaben gesonnen ist, zeigt sich die wahre politische Bildung".

Tatsächlich dürften die politischen Rechte und insbesondere (heute) die Möglichkeiten zu Initiative und Referendum wesentlich dazu beitragen, dass sich Schweizer überhaupt als Bürgerinnen und Bürger  eines Landes verstehen, und nicht nur als Kunde staatlicher Leistungen, für die man Steuern bezahlt. Das durch die Mitgestaltung automatisch entstehende Interesse und das damit verstärkte Mitverantwortungsgefühl führen nicht nur beim Einzelnen, sondern auch für ganze Regionen zu einer Anbindung an ein staatliches Gebilde, das andernfalls etwas Abstraktes und Zufälliges bleiben würde. Oder eben, um es mit Kellers Sauerteig Vergleich zu sagen: Wer den Teig selber macht, findet auch das Brot besser.


Drittens, das Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit. Diese Eigenschaft, die unsere Demokratie meines Erachtens von anderen politischen Systemen mehr unterscheidet als die pure Zahl unserer Abstimmungen, dass wir uns nämlich daran gewöhnt haben, bei der Umsetzung des Mehrheitsentscheids auch die Minderheitsmeinung, die Stärke der Minderheit und deren Betroffenheit zu berücksichtigen, hat wesentlich dazu beigetragen, unser Land zusammenzuhalten. Es hilft eben nicht nur die tröstende Zuversicht, dass man bei einer nächsten Abstimmung wieder zu den Gewinnern gehören kann. Es ist in erster Linie die Tradition, das ungeschriebene Gesetz, so weit wie möglich Mass zu halten, gegenüber jenen Gebieten und Kantonen, deren Bevölkerung durch den Ausgang der Abstimmung grössere Nachteile erfahren und deshalb mehrheitlich dagegen waren. Diese Rücksicht wird ab und zu als mangelnder Respekt vor dem nationalen Volkswillen oder als fauler Pragmatismus kritisiert. Auf der anderen Seit hat sie zweifellos geholfen, auch unangenehme Volksentscheide zu akzeptieren und unser politisches System zu festigen. Ganz allgemein haben der Schutz und die Unterstützung der Minderheiten, insbesondere der sprachlichen Minderheiten, den Zusammenhalt geprägt. Und es gibt eine Reihe von Instrumenten, von den Möglichkeiten der neuen Regionalpolitik über den Finanzausgleich bis zur SRG, welche in der Schweiz entwickelt worden sind und Regionen sowie Minderheiten unterstützen, bzw. damit für einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ausgleich sorgen, um den uns andere beneiden.


Viertens, die Grundversorgung, auch bekannt als Service Public. Post, Telekommunikation, Medien, öffentlicher Verkehr und Strassen. Es gibt kein Land, das besser erschlossen ist mit Infrastrukturgüter und Infrastrukturdienstleistungen als die Schweiz. Nur zwei, drei Beispiele: Wir haben in der Schweiz 11‘500 Postauto-Haltestellen, jeden Tag benützen 380‘000 Personen ein Postauto. Bund und Kantone bestellen (das ist ein anderes Wort für „finanzieren") auf 1200 Linien des Regionalen Personenverkehrs Zugsverkehr, damit Randgebiete erschlossen bleiben, jährlich für knapp eine Milliarde Franken. Die Post transportiert an einem normalen Tag ca. 15 Millionen Briefe und etwa 280‘000 Pakete, alle zum selben Tarif, ob der Brief in die Nachbargemeinde oder vom Puschlav nach Basel geht. Kein Land in Europa hat so eine dichte Breitbanderschliessung wie die Schweiz. Kein Land hat so ein dichtes Autobahnnetz (wir haben alle vier Kilometer eine Autobahnausfahrt). Und kein Land in Europa hat einen dichteren Zugsverkehr (unsere Züge, das ist Ihnen vielleicht noch nicht aufgefallen, fahren nicht nur viel häufiger über den selben Streckenabschnitt, sie fahren auch schneller in die Bahnhöfe, weil sie damit noch einige Sekunden Fahrzeit herausholen können). In der Schweiz müssen mindestens 90% aller Einwohner zu Fuss oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel in weniger als 20‘ bei der nächsten Poststelle sein. Das wird jährlich von einer unabhängigen Stelle geprüft, und es wird auch eingehalten. Suchen Sie auf der Karte ein anderes Land, wo das der Fall ist.

Meine Damen und Herren, das ist alles keine Selbstverständlichkeit, sondern geht auf bewusste politische Entscheide zurück. Es gab auch in Süddeutschland und Frankreich einmal kleinere Regionalbahnen. Dort jedoch war der Wille, selbst zu grösseren Kosten für den Staat die Randregionen mit öffentlichem Verkehr zu erschliessen, nicht so stark wie hierzulande, und man liess die Privatbahnen an vielen Orten in Konkurs gehen. In der Schweiz kostet die Grundversorgung bis heute einiges, aber sie bringt uns auch viel. Sie führt insbesondere dazu, dass man in den Randregionen leben und wirtschaften kann, ohne auf die wesentlichen Güter und Dienstleistungen verzichten zu müssen. Gerne wird in diesen Zeiten über die SRG geschimpft. Aber ohne das bestehende Finanzierungssystem der SRG gäbe es für die Engadiner hier entweder gar kein Fernsehen, nur ein sehr schlechtes Fernsehen oder nur ein sehr teures Fernsehen in romanischer Sprache. Die Grundversorgung wird durch die wirtschaftlich starken Regionen mehr finanziert als durch die wirtschaftlich schwachen. Sie ist damit Teil eines Ausgleichs, von dem letztere profitieren. Die Regionen fühlen sich eher getragen und verstanden. Der Zusammenhalt wächst.

Meine Damen und Herren, neben diesen vier Elementen, welche zum Zusammenhalt unter den Regionen beitragen, gibt es auch ein fünftes, das ich zum Schluss erwähnen möchte. Was die Regionen zusammenhält, hat auch mit den Verbindungen und Bindungen zu tun, welche zwischen den Menschen in diesen Regionen hergestellt und ausgebaut werden. Ich persönlich bin im Freiamt im Aargau aufgewachsen. Meine Grossmutter war im Alpstein in der Ostschweiz zu Hause, wo wir sie jeden Sommer in den Ferien für ein, zwei Wochen besuchten. Seither bin ich mit der Ostschweiz eng verbunden. Hier, im Engadin, habe ich einige sehr gute Freunde. Dass ich sie in Scuol besuche, und sie mich in Sigriswil besuchen, macht uns zu Verbindungselementen dieser zwei Regionen. Sie alle hier machen ähnliche Erfahrungen. Es sind die Menschen, welche die Regionen zusammenhalten, und nicht die Verträge. Die Verträge geben nur das Gerüst, die Form. Aber ein Zusammenhalt entsteht anders.

Wo sehen Sie das am besten? Am Zusammenhalt unter den Sprachregionen. Denn um diesen zu fördern, nützen Ihnen alle Bundesgesetze und Verkehrsverbindungen wenig, wenn Sie keine persönlichen Bindungen erhalten oder aufbauen können. Wenn die Leute nicht einmal mit einander sprechen können, ohne sich auf Englisch durchzuwursteln. Was die Regionen in der Schweiz zusammenhält, wird meines Erachtens wesentlich davon abhängen, ob es uns gelingt, der Mehrsprachigkeit in der Schweiz Sorge zu tragen. Und nicht nur mit ihr zu prahlen, wenn wir an der italienischen Küste dem deutschen Sitznachbar von der polyglotten Schweiz erzählen.

Dass die Partner des Projekts „Mia Engiadina" hier in der romanischen Schweiz geholfen haben, mit neuen, digitalen Technologien Verbindungskanäle zu schaffen, rechnen wir ihnen hoch an. Das ist ein sehr sinnvolles Investment, und ich begrüsse das sehr. Und ich bin zuversichtlich, dass bald die ganze Schweiz aufschliessen und über noch viel mehr Kapazitäten auf ihrem Breitbandnetz verfügen wird, als dies heute der Fall ist. Aber wir müssen es auch nutzen. Und miteinander kabeln und sprechen, und dann uns treffen. Und wenn es wie heute, ein Treffen in Ftan ist, dann umso besser. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


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