«Unsere Sinne schärfen»

Berne, 27.01.2016 - Ansprache von Bundeskanzler Walter Thurnherr anlässlich des Internationalen Gedenktags an die Opfer des Holocaust am 27. Januar 2016 in Bern. Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Nationalratspräsidentin
Exzellenzen
Sehr geehrte Damen und Herren

Ich fühle mich weder kompetent noch berufen, etwas zum Holocaust zu sagen, was nicht schon gesagt worden ist. Über das Unaussprechliche zu sprechen, ist eine ziemlich schwierige Aufgabe.

Aber eine Bemerkung möchte ich trotzdem machen - nicht weil sie neu, sondern weil sie, wie ich denke, in diesem Zusammenhang wichtig ist: Es gibt nichts, was nicht nochmals passieren kann. Vielleicht nicht am selben Ort und nicht auf dieselbe Art. Vielleicht völlig unerwartet. Aber trotzdem, alle Ereignisse, selbst die unvorstellbarsten Gräueltaten können sich auf die eine oder andere Weise wiederholen.

Niemand hat das besser geschrieben als Primo Levi: „Jenseits unserer individuellen Erfahrungen sind wir alle Zeuge eines grundlegenden und unerwarteten Geschehens gewesen, das eben darum grundlegend war, weil es unerwartet war, von niemandem vorausgesehen. Es hat sich gegen jede Vorhersage ereignet, es hat sich in Europa ereignet. Unfasslicherweise hat es sich ereignet, dass ein ganzes zivilisiertes Volk, (...), einem Hanswurst folgte ... Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen ... Daher müssen wir unsere Sinne schärfen."

Und tatsächlich, das systematische Morden und Töten hat mit dem Holocaust nicht aufgehört. Weder im sowjetischen Gulag, noch in Ruanda oder auf dem Balkan: Es geschieht in praktisch jedem Krieg, rund um die Welt, als müsste jede zweite Generation eine barbarische Erfahrung durchleben, damit die glückliche Generation dazwischen, davon die Finger lässt. Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen. Was wir dagegen tun können? Unsere Sinne schärfen. 

Auch wenn es mit Internet und den sozialen Medien schwieriger geworden ist, nicht hinzusehen, bleibt das Wegschauen und Verdrängen bis heute eine viel genutzte Alternative. Kein Wunder, dass der Historiker Fritz Stern anlässlich der Verleihung des Deutschen Friedenspreises über dieses „Nicht Hinsehen wollen" von einer „Furcht erregenden Signatur" des 20. Jahrhunderts gesprochen hatte: „Die Vergangenheit hat uns in mancher Hinsicht gelehrt, wie man es nicht machen soll; wie man es machen soll, bleibt die Aufgabe der Zukunft.

Und an anderer Stelle: „Ich habe oft und überall gesagt, dass jegliche Instrumentalisierung oder Trivialisierung der Vernichtung der Juden, jegliches Vergessen der Millionen anderer Opfer sich an den Opfern selbst vergeht. Man ehrt die Opfer eher mit dem Versuch, die Welt, der sie entrissen wurden und die meist mit ihnen zu Grunde ging, in historischer Forschung zu rekonstruieren und so im kollektiven Gedächtnis aufzuheben."

Ich persönlich bin überzeugt, dass Stern in diesem Punkt Recht hat. Den Opfern von damals wird am ehesten gerecht, wer überhaupt versucht, zu verstehen, was geschehen war. Und damit schärft er seine Sinne, wenn Ähnliches im Anzug ist. Das Wissen und sich Erinnern an Geschehenes ersetzt nicht den Charakter, den es braucht, um hinzusehen und zu handeln. Aber es hilft, ihn zu stärken und zu sensibilisieren.

Ces activités importantes - perpétuation de la mémoire des victimes de l'Holocauste, renforcement de la recherche historique et de l'effort éducatif - doivent être menées au plan international et de manière coordonnée. C'est dans ce but qu'a été créée l'International Holocaust Remembrance Alliance, une organisation intergouvernementale qui regroupe actuellement plus de 30 Etats. Sur décision du Conseil fédéral, la Suisse aura l'honneur et la grande responsabilité de la présider en 2017.

C'est pour ça aussi que je salue l'initiative du corps diplomatique d'avoir organisé une cérémonie solennelle qui nous réunit tous ce soir dans la capitale, à l'occasion de la Journée internationale à la mémoire des victimes de l'Holocauste.

La Suisse est membre de l'International Holocaust Remembrance Alliance depuis plus de dix ans. Dans ce cadre, elle soutient en particulier les survivants suisses dans leurs efforts pour témoigner. Je me réjouis d'ores et déjà d'entendre tout à l'heure le récit de l'un de ces survivants, M. Eduard Kornfeld.

Meine Damen und Herren, wir alle hier verneigen uns vor den Toten und Überlebenden des Holocaust. Ihr Leid ist uns nicht zugänglich. Was unser Beitrag sein kann, ist die Schärfung unserer Sinne, in dem wir die Vergangenheit studieren und uns an sie erinnern. (Der britische Politiker) Roy Jenkins hielt 1988 in der Library of Congress in Washington eine Rede zur Frage: „Should Politicians Know History?" Dabei ging er die Lebensläufe einer ganzen Reihe von amerikanischen und europäischen Präsidenten und Premierminister durch.

Und auch wenn er sein Fazit mit der Bemerkung relativierte: „I believe it is more that historical knowledge stems from a mixture of curiosity and a generally well-stocked mind, and that those with these attributes are better equipped than those without", kommt er nach Abwägung einer Vielzahl politischer Biographien zum Schluss: „What I really believe is that those with curiosity, whatever their educational and occupational backgrounds, are bound to have interest in and acquire knowledge about the past; and that those without it are likely to be dull men and uncomprehending rulers."

Ich glaube, dass dies zutrifft, im Wesentlichen aber allen Bürgerinnen und Bürgern als Massstab dienen kann. Wer die Vergangenheit schärfer sieht, erkennt auch die Gegenwart besser. Und wie gesagt: Wir alle müssen unsere Sinne schärfen! Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


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