Die unterschiedlichen Perspektiven des schlanken Staates

Berne, 22.05.2014 - Eröffnungsansprache der Bundeskanzlerin Drei-Länder-Tagung der verwaltungswissenschaftlichen Gesellschaften: Schweiz – Deutschland – Österreich; 22./23. Mai 2014, Luzern

Sehr geehrte Damen und Herren

Als Präsidentin der gastgebenden Schweizerischen Gesellschaft für Verwaltungswissenschaften freut es mich sehr, Sie zur Drei-Länder-Tagung willkommen zu heissen.

Sie werden sich in den zwei Tagen mit dem Thema der unterschiedlichen Perspektiven des schlanken Staates auseinandersetzen - und ich habe die Ehre, Sie mit meiner "Key-Note" auf das Thema einzustimmen.

Was ist "der schlanke Staat"? oder: Wann kann ein Staat als "schlank" bezeichnet werden? Hier ist der Fächer an möglichen Definitionen so weit, wie die Liste darüber bereits verfasster Artikel lang ist.

Wie war das 2008, als der Bundesrat per Notrecht die UBS rettete? Eine Verordnung über die Rekapitalisierung der UBS AG enthielt gerade mal fünf Artikel. Ohne diese Aktion, bei der sich der Bundesrat direkt auf die Bundesverfassung abstützte, wäre die Rettung der UBS nicht möglich gewesen. Also eine schlanke Regelung für eine existentielle Frage.

Das war gut. Aber soll es zur Regel werden?

Wirft man einen Blick zurück, so erkennt man, dass die Schweiz ab 1939 bis anfangs der fünfziger Jahre in eingeschränkter Demokratie regiert wurde. Der Bundesrat liess sich mit umfangreichen Notrechtskompetenzen ausstatten und betätigte sich über Jahre praktisch in Eigenregie auch als Gesetzgeber. Gesetze, die vom Parlament noch beschlossen wurden, wurden gar nicht selten unter Dringlichkeitsrecht gestellt, womit die Möglichkeit eines Referendums ausgeschaltet war. Auch eingereichte Volksinitiativen wurden teilweise jahrelang schubladisiert. Solche Praktiken waren zwar durchaus schlank, aber mit der Bundesverfassung kaum zu vereinbaren. Speziell in ausserordentlichen Lagen und in Krisensituationen muss der Staat über Instrumente verfügen, die ihm ein rasches und effizientes Handeln ermöglichen. Obwohl unter gewissen Voraussetzungen nötig, gar unabdingbar, kann diese Art von schlankem Staat à la longue jedoch nicht erstrebenswert sein. Der Bundesrat ist denn auch sukzessive davon abgerückt. Oberste Maxime ist und bleibt das rechtsstaatliche Handeln.

Das Parlament hat denn auch die Aktion der UBS-Rettung zum Anlass genommen, die Handlungsmöglichkeiten des Bundesrates auch in ausserordentlichen Lagen einzuschränken.

Was aber zeichnet einen schlanken Staat aus? Welche Leistungen soll der schlanke Staat erbringen?

Service public ist hier das Schlagwort und so möchte ich einige Gedanken dazu machen.

Unter Service public verstehe ich die Gesamtheit aller Dienstleistungen, die der Bund, die Kantone und die Gemeinden grundsätzlich über alle Lagen gegenüber der Allgemeinheit erbringen.

Beim Service public kommt es zu einer typisch schweizerischen Aufgabenteilung zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden. Dabei soll aber nicht die gesamte, politisch definierte Grundversorgung an Gütern und Dienstleistungen durch staatliche Unternehmen erbracht werden.

In den letzten 25 Jahren wurde ein Teil der ehemaligen öffentlichen Unternehmen teilweise oder ganz privatisiert.

Zum Beispiel die PTT: daraus entstanden die Post und die Swisscom. Ich erinnere mich noch, wie mich meine Eltern ermahnten, nur zu gewissen Tageszeiten zu telefonieren, weil dann die Gebühren tiefer waren. Denn Telefonieren im Festnetz war damals teuer, sehr teuer sogar. Dank den Gewinnen, die mit diesen Gebühren erzielt wurden, konnten andere Leistungen überhaupt erbracht werden. Das betrifft vor allem diejenigen Leistungen, die wirtschaftlich nicht attraktiv sind. Der Transport von Briefen von einer Agglomerationsgemeinde in eine andere ist lukrativ. Aber von einer Stadt in eine abgelegene Gemeinde schon weniger. Nun, wer schreibt heute noch Briefe? Oder wer benützt die Post für den Transport von Unterlagen? Immer weniger; umso mehr wird heutzutage elektronisch kommuniziert. Die Grundfrage bleibt jedoch die gleiche: Schnelle Leitungen werden vor allem im dichten Agglomerationsgebiet zur Verfügung gestellt und weniger in gebirgigen Randregionen...

Heute werden viele Aufgaben des Service public öffentlich und international ausgeschrieben. Die bisherige Betreibergesellschaft sieht sich dann mit neuer Konkurrenz konfrontiert.

Der Service public ist ein kontrovers geführtes Dauerthema der schweizerischen Politik. Während viele liberal oder "neoliberal" gesinnte Politiker der öffentlichen Hand möglichst wenig überlassen wollen und der Auffassung sind, private Unternehmen könnten die Dienstleistungen auch bzw. besser erbringen, und mehr Wettbewerb verlangen, sieht das andere politische Spektrum dies naturgemäss anders.

Sehr aktuell, nämlich gerade letzte Woche, hat der Bundesrat die Botschaft zur Volksinitiative "Pro Service public" an das Parlament verabschiedet. Die Initiative verlangt, dass bundesnahe Unternehmen wie die Post, die Swisscom und die SBB nicht nach möglichst hohen Gewinnen streben, sondern der Bevölkerung in erster Linie einen guten und bezahlbaren Service bieten.

Der Bundesrat empfiehlt dem Parlament, die Initiative ohne Gegenvorschlag abzulehnen. Der Service public in der Schweiz ist von hoher Qualität und die an sich berechtigte Forderung der Initianten somit bereits erfüllt. Bei einer Annahme der Initiative wäre zu befürchten, dass sowohl der Service public als auch die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit der bundesnahen Unternehmen durch die Vorgaben der Initiative geschwächt würden.

Aber woraus besteht "ein guter und bezahlbarer Service"? Was steht dabei im Vordergrund? Wettbewerbsfähigkeit der Dienstleister oder Leistung um jeden Preis?

Ich bin für eine Staatsstruktur, die Bürgerfreiheit und Bürgernähe mit wenig Bürokratie fördert. Liberalisierung und Öffnung sind auch darum im Prinzip zu begrüssen, weil damit die Innovationskraft und die Qualität einer Leistungserbringung gefördert werden.

Das führt mich zu einem weiteren Grundprinzip unseres Bundesstaates. Föderalismus und Subsidiarität. Die Bundesverfassung sagt hierzu unter anderem, dass die Stärke des Volkes sich am Wohl der Schwachen misst.

Die Gliedstaaten der Schweiz, die Kantone, verfügen über voll ausgebaute staatliche Strukturen und damit über eigene politische Institutionen für die Exekutive, die Legislative und die Judikative.

Der Hauptgedanke ist, wenn möglich Verantwortung an kleinere Strukturen zu übertragen, wo die Nähe zu den Betroffenen grösser ist: von der Gemeinde-Ebene zum Kanton und zum Bund. Das führt im Idealfall zu Gesetzen und Regelungen, die auf lokale Bedürfnisse zugeschnitten sind und damit die Akzeptanz erhöhen.

Dies führt auch zu einer gesunden Konkurrenz um effizientere öffentliche Verwaltungen und andere Standortvorteile, etwa auch bei den Steuern. Allerdings bedingt dies einen entsprechenden Regierungs- und Verwaltungsaufwand. Unterschiede führen zu zusätzlichen Kosten für Bürger und Unternehmen. Bürgernähe und Schlankheit der Verwaltung stehen also ab einem gewissen Zeitpunkt im Widerspruch zueinander.

E-Government, ein weiteres Zauberwort, auch im Kontext eines schlanken Staates: E-Government soll Transparenz schaffen und das Vertrauen in die Regierungs- und Verwaltungstätigkeit fördern. Deshalb will der Bund seine Dienstleistungen effizient, rund um die Uhr und in einwandfreier Qualität anbieten.

Einfache und sichere elektronische Interaktionen und Transaktionen werden den Verkehr zwischen staatlichen Stellen einerseits, zwischen Behörden und Bürgerinnen und Bürgern andererseits sowie Unternehmen und Behörden erleichtern. Gleichzeitig werden auch Kommunikation und Geschäftsverkehr zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden vereinfacht. Dafür schafft der Bund Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit mit den Kantonen, den Gemeinden und der Wirtschaft.

Als Grundlage verabschiedete der Bundesrat im Jahr 2007 die E-Government-Strategie Schweiz. Diese ist in Zusammenarbeit mit den Kantonen entstanden. Damit soll die Verwaltung in der Schweiz auf allen Ebenen - natürlich unter Wahrung der Kantons- und Gemeindehoheit - mittels Informations- und Kommunikationstechnologie so bürgernah, effizient und wirtschaftlich wie möglich gestaltet werden. Bund und Kantone bekennen sich im Bereich E-Government zur strategisch wichtigen staatsebenen-übergreifenden Zusammenarbeit. Das ist eine positive Entwicklung. Ich halte sie für notwendig und unabdingbar.

Ein "schlanker Staat" hat für mich auch viel mit dem Belassen oder Übertragen von Freiheiten zu tun. Der Staat soll stark, aber gleichzeitig schlank sein.

Stärke und Schlankheit schliessen sich nämlich nicht aus, sondern sie geben den Freiheiten ihren grösstmöglichen Raum. Angesichts unserer komplexen globalisierten Welt, in der sich Gesellschaft, Wissenschaft und Politik nicht immer in der gleichen Geschwindigkeit bewegen, spielt der Staat eine wichtige Rolle. Als Gesetzgeber und Regulator ist er bemüht, die rationellsten Methoden zu finden. Das staatliche Handeln soll legitim und stark sein. Soziale Marktwirtschaft beispielsweise ist ohne die Ordnungskraft des Staates kaum möglich.

Für den starken und dennoch schlanken Staat lassen sich eine Reihe von Folgerungen ableiten, die Grundlagen für die weitere Diskussion bieten können:

Nur ein starker Staat kann den Wettbewerb wirksam fördern und beaufsichtigen. Der Staat wurde gestärkt, als beispielsweise im Spannungsfeld zur Wirtschafts- und Gewerbefreiheit das Binnenmarkt-, das Kartell- oder das Schwarzarbeitsgesetz erlassen wurden.

Erwähnenswert ist hier auch die 2001 eingeführte Schuldenbremse. Die Schweiz verfügt im europäischen Vergleich über eine recht geringe Schuldenquote. Schon seit vielen Jahrzehnten bemüht sie sich darum, das Verhältnis von Schulden zum Bruttoinlandsprodukt unter Kontrolle zu halten und einer stark ansteigenden Verschuldung entgegenzuwirken.

Der Erfolg in der Begrenzung der Staatsverschuldung brauchte Zeit und kam schliesslich mit der Einführung der Schuldenbremse, deren "Vater", Bundesrat Kaspar Villiger, heute unter uns weilt. Seit 2001 zwingt uns die Bundesverfassung zu einem langfristig ausgeglichenen Haushalt: In Phasen der Hochkonjunktur muss der Ausgabenplafond unter die Einnahmen zu liegen kommen. Umgekehrt darf es in Rezessionen ein Defizit geben. Über einen ganzen Konjunkturzyklus hinweg muss die Rechnung ausgeglichen sein. Mit diesem Instrument können wir die Schulden kontinuierlich senken. Aktuell hat der Bund eine Schuldenquote von 17.5 Prozent. Dies nach dem Höchststand von 27.5 Prozent im Jahr 2003. Die Schuldenlast wird immer kleiner. Dies stärkt den Staat und das ist gut.

Ein schlanker Staat demgegenüber entzieht dem Volk und der Wirtschaft nicht zu viele Mittel, belässt diese somit bei den Akteuren, die ja im Wettbewerb stehen und bei geringerer Steuerlast über längere Spiesse verfügen.

"Schlank" bedeutet aber auch, dass der Staat nicht alles kann und dass er den "Mut zur Lücke" haben muss. Ich gehe dabei vom Bild des mündigen, ehrlichen Bürgers aus, der als Souverän die Geschicke des Staates möglichst direkt mitentscheiden kann und soll. Über ein Drittel der weltweiten Referenden seit der Französischen Revolution bis heute haben in der Schweiz stattgefunden.

In den letzten Jahren ist allerdings eine Tendenz erkennbar, welche vermuten lässt, dass das Instrument der Volksinitiative auch als Marketinginstrument verwendet wird. Oder ist die Flut an hängigen Volksinitiativen auch Ausdruck einer Unzufriedenheit mit den politischen Akteuren? Auf jeden Fall bestimmt sie immer mehr die politische Agenda von Regierung und Parlament.

Dazu nur ein paar Zahlen: Im Sammelstadium, beim Bundesrat oder im Parlament hängig sind insgesamt 29 Volksinitiativen. Nach der Einreichung müssen alle Volksinitiativen von Bundesrat und Parlament behandelt werden und innert vorgegebenen Fristen zur Abstimmung gelangen. Pro Jahr stehen maximal vier Abstimmungstermine zur Verfügung.

Kann eine direktdemokratisch und föderalistisch aufgebaute Staatsstruktur überhaupt schlank sein? Diktaturen mögen schlanker sein; rechtsstaatlicher sind sie sicher nicht.

Das Zusammenwirken von Regierung und Gesetzgeber spielt im Kontext eines schlanken Staates eine wesentliche Rolle. Eine wichtige Aufgabe des Bundesrates ist es, dem Parlament Entwürfe für Gesetzesvorlagen zu unterbreiten. Es gilt, das Gesetzgebungsprogramm des Bundesrates in Einklang zu bringen mit den sogenannten parlamentarischen Initiative, mit welchen ein Ratsmitglied, eine Fraktion oder eine parlamentarische Kommission einen eigenständigen Vorschlag zu einem Gesetz oder einer Verfassungsänderung einbringen kann.

Im Rahmen diverser Verwaltungsreformprojekte wurde auch immer wieder versucht, Bestehendes zu verschlanken. In einem Fall sogar fast wortwörtlich, indem darauf hingearbeitet wurde, dass Botschaften der Landesregierung ans Parlament nicht mehr als 30 Seiten umfassen sollten. Solcherlei Vorgaben, sind sie auch noch so gut gemeint, bergen jedoch immer die Gefahr, dass letztlich eben über das eigentliche Ziel hinausgeschossen wird. Denn befolgen lässt sich eine solche Regel oft nicht, und selbst wenn der Bundesrat nur noch schlanke Botschaften ans Parlament schicken würde, würde das Parlament zusätzliche Berichte fordern - und das zu Recht. Gesetzesvorlagen werden immer komplexer. Zur Erreichung von Mehrheiten im Parlament und allenfalls beim Volk ist es richtig und wichtig, dass der Inhalt der Norm verstanden wird. Gerade in Zeiten, wo Powerpoint-Präsentationen gang und gäbe sind, sind zusammenhängende Darstellungen unabdingbar.

Wie Sie in der Einführung zum Tagungsprogramm lesen können, gehen die finanzpolitischen und strukturellen Herausforderungen der europäischen Länder einher mit der Diskussion, wie viel Staat "man" sich heute noch leisten kann und soll...

Und so wünsche ich Ihnen nun für die kommenden zwei Tage inspirierende, kreative und erfüllende Diskussionen rund um die Perspektiven des schlanken Staates. Ich danke Ihnen.


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