Colonialisme. Une Suisse impliquée

Zurich, 12.09.2024 - Discours de la conseillère fédérale Elisabeth Baume-Schneider au Musée national à Zurich. Seules les paroles prononcées font foi (seulement en allemand).

Meine Damen und Herren

Was ist das Ziel der Geschichtsschreibung? Herauszufinden, wie es wirklich war. Auch wenn streng genommen immer nur Annäherungen an vergangene Realitäten möglich sind. Ein «work-in-progress», ein Prozess, der nie zu Ende ist, nie zu Ende sein kann.

Denn unsere Gesellschaft, unser Wertesystem, unsere Interessen: Das alles verändert sich dauernd, meistens kaum spürbar – aber manchmal auch in Schüben. So auch beim Thema Schweiz und Kolonialismus.

Lange, allzu lange klammerte man sich hierzulande an die Devise: Die Schweiz habe – als Land ohne Kolonien – nichts mit der Kolonialzeit zu tun gehabt. Was waren wir? Bestenfalls Beobachter. Ein Zaungast der Geschichte. Heute erscheint uns diese Position als etwas gar kurz gedacht. Ja, als präventiver Freispruch in eigener Sache. Dank vielen kritischen Stimmen aus Wissenschaft und Gesellschaft reift seit einigen Jahren die Erkenntnis, dass die Schweiz auf vielfältige Weise verflochten war mit dem kolonialistischen System. Dieser Schritt zu einem ehrlicheren Selbstbild ist ein Fortschritt. Aber wir müssen uns auch fragen, weshalb erfolgt er erst so spät?

George Floyd und David De Pury

Ich habe es zu Beginn gesagt: Manchmal verändert sich unsere Welt in Schüben. Ein solcher Katalysator-Moment war der Mord an George Floyd im Jahre 2020 und die weltweiten Anti-Rassismus-Proteste, die auf ihn folgten. Sie erreichten rasch auch die Schweiz und zeitigten fundamentale Folgen. In Neuchâtel zum Beispiel entzündete sich der Konflikt um die kontaminierte Vergangenheit an David De Pury und seiner Statue, die bis heute den wichtigsten Platz der Stadt ausfüllt.

De Pury war ein Kaufmann aus Neuchâtel, der im 18. Jahrhundert neben Diamanten auch mit Sklaven handelte – und zwar in grossem Stil. Seine Geschäfte besorgte er in Amsterdam, Lissabon und London. Er kehrte selten in seine Heimatstadt zurück. Das hinderte ihn aber nicht, Neuchâtel später einen Grossteil seines Vermögens zu vermachen. Nach heutigem Wert über eine halbe Milliarde Franken. Laut Testament sollte das gewaltige Kapital je zur Hälfte in öffentliche Gebäude und in Hilfswerke investiert werden. In Neuchâtel kannte man die Herkunft des Geldes kaum. Aber man wollte es wohl auch nicht allzu genau wissen. Man nahm das Geld gerne und finanzierte damit unter anderem ein Bürgerspital, das Rathaus und zwei Gymnasien. Bauwerke für die breite Bevölkerung. Alle profitierten von De Purys Vermächtnis. Von seinen Geschäften. Von seinem Geld.

Das heisst nicht, dass es eine kollektive Schuld gibt für das Handeln von De Pury. Aber eine kollektive Verantwortung gegenüber der Geschichte. Während den Black Lives Matter-Protesten wurde De Purys Statue wiederholt mit roter Farbe bekleckert. Es folgte eine intensive Debatte und inzwischen hat Neuchâtel die Statue mit einer erklärenden Plakette versehen und mit einem Kunstwerk ergänzt, um auf die kolonialen Zusammenhänge hinzuweisen. De Pury wird nicht mehr nur als edler und erfolgreicher Sohn der Stadt dargestellt. Sein problematisches Wirken wird sichtbar. Er war Täter und Wohltäter in einem.

Komplexität und Ambiguität der Geschichte

Geschichte in ihrer Komplexität und Ambiguität zu zeigen, ist wichtig. Man könnte sagen: Der kritische Zeitgeist hat gesiegt. Die Zeit war reif, die kollektive Einbildung aufzulösen, wir hätten mit dem Kolonialismus nichts zu schaffen gehabt. Aber das Zeitgeist-Argument ist im Zusammenhang mit dem Kolonialismus oft nur eine Ausrede. Fest steht jedenfalls: Es gab schon vor langer Zeit durchaus Stimmen, die den bequemen Konsens hinterfragten. So schrieb der Glarner Kantonsarchivar Eduard Vischer vor rund 60 Jahren: «Auch wenn wir nie Kolonien hatten, so lebten wir doch nicht auf einem anderen Stern und waren gewiss nicht besser als andere Menschen. In den europäischen und aussereuropäischen Kriegen und Streitigkeiten blieben wir als Staat neutral, individuell nahmen wir – als Reisläufer – daran teil, und ebenso schalteten wir uns als Kaufleute mit grosser Energie ein, wo es irgend möglich war, und beteiligten uns an der Verteilung der Reichtümer der Erde.»

Wieso blieb diese zugleich unaufgeregte wie schonungslose Analyse von Eduard Vischer damals ungehört? Sicher, die Schweiz befand sich mitten im Kalten Krieg, jede Selbstkritik galt als potentiell subversiv; die De-Kolonialisierung der 60er Jahre trieb Länder wie Grossbritannien und Frankreich um – aber eben nicht die Schweiz.

Vor allem aber wurde eine ernsthafte Aufarbeitung erschwert durch den schwer fassbaren Charakter der Schweizer Beteiligung am kolonialen System. Genauer: Der Beteiligung einzelner Schweizer, denn staatliche Institutionen spielen eher eine untergeordnete Rolle.

Die Beteiligung unseres Landes ist nicht klar identifizierbar – weder geographisch noch politisch. Sondern sie fand – Zitat - «überall ein bisschen» statt, wie es die Historikerin Manda Beck und der Historiker Andreas Zangger formulierten. Obwohl die Schweiz keine eigenen Kolonien verwaltete, war sie stark in den transnationalen Handel eingebunden, der von kolonialen Imperien betrieben wurde. «Überall ein bisschen»: Das ist in der Summe ziemlich viel…Das zeigt auch diese Ausstellung eindrücklich:

Schweizer Unternehmen profitierten erheblich von der kolonialen Ausbeutung, insbesondere im Bereich des Handels mit Rohstoffen wie Zucker, Kaffee, Kakao und Baumwolle. Viele dieser Produkte wurden unter menschenunwürdigen Bedingungen abgebaut oder produziert, auf Plantagen in Afrika, Amerika, Asien. Kurz: Im Windschatten der Kolonialmächte und ihrer Armeen florierten auch die Schweizer Geschäfte – oder eben die Geschäfte von einzelnen Schweizern und von Schweizer Unternehmen. Darüber hinaus stellte die Schweiz eine beträchtliche Anzahl von Söldnern, die in den Armeen kolonialer Mächte dienten.

Auch Schweizer Missionare waren in kolonialen Gebieten aktiv und spielten eine Rolle bei der Verbreitung christlicher Lehren, die oft dazu beitrugen, die koloniale Ideologie zu festigen. Schweizer Wissenschaftler beteiligten sich an ethnographischen Studien, die häufig dazu dienten, koloniale Herrschaft zu legitimieren und zu festigen. «Überall ein bisschen» - es gäbe viele weitere Beispiele.

Das koloniale Erbe unseres Landes

Die vielfältige, aber schwer fassbare Rolle unseres Landes stellt uns vor eine Entscheidung. Wenden wir uns vom Thema ab, weil es so komplex, ja scheinbar undurchdringlich ist? Oder sehen wir besonders genau hin, weil wir nur so begreifen können, wie es wirklich war? Und wie dieses koloniale Erbe unsere Gegenwart prägt? Ein Bewusstsein der Schweizer Rolle im kolonialen System hilft uns, uns mit Fragen vertieft auseinanderzusetzen, denen wir uns ohnehin stellen müssen. Fragen über die globale Verflochtenheit unserer Wirtschaft und die moralisch-ethischen Herausforderungen, die sich aus ihr ergeben. Ein kritisches Bewusstsein für die Rolle der Schweiz im kolonialen System stärkt aber auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Die Stereotypen und Vorurteile, mit denen sich «People of Color», oft mit Wurzeln in ehemaligen Kolonien, auch hierzulande konfrontiert sehen, gehen auf die Kolonialzeit zurück. Eine aktive Erinnerungspolitik schärft unseren Sinn für Diskriminierung in der Gegenwart – auch für subtile Formen der Geringschätzung, die uns vielleicht kaum bewusst sind. Das schulden wir den betroffenen Menschen in unserem Land – und das schulden wir uns auch selber. Denn unser Anspruch, eine faire Gesellschaft zu sein, lässt sich nur einlösen, wenn wir auch wirklich alle Mitbewohnerinnen und Mitbewohner unseres Landes im Alltag respektvoll behandeln.

Die Zeit für einen ehrlicheren Blick auf unsere Geschichte ist gekommen. Die Schweizer Geschichte ist von der Geschichte des Kolonialismus nicht fein säuberlich zu trennen. Die Schweizer Geschichte muss nicht neu geschrieben werden – aber sie muss ergänzt werden um eine wichtige Dimension. Jene des kolonialen Erbes unseres Landes.

Muss die selbstbewusste Schweiz nun in einen Modus der Selbstanklage, des chronischen schlechten Gewissens wechseln? Nein, das wäre weder angemessen noch zielführend. Vielmehr sollten wir unsere vielfältige und vielschichtige Beteiligung am Kolonialismus als erinnerungspolitische Chance begreifen. Denn im Gegensatz zu den Kolonialmächten können wir die Verantwortung nicht einfach an den Staat delegieren – und sie so für uns selber gleichsam ad acta legen. Die Verantwortung müssen wir selber wahrnehmen – jede Einzelne und jeder Einzelne. In unseren Unternehmen, in der Gesellschaft, in der Politik, im Alltag. Überall ein bisschen.


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