34. Zürcher Albisgüetli-Tagung: Die Schweiz lässt sich nicht spalten. Was wir aus unserer Geschichte lernen können (de)

Albisgüetli, 21.01.2022 - Address by the president of the Swiss Confederation and Head of the Department of foreign affairs FDFA, Ignazio Cassis - check against delivery

Geschätzter Herr Präsident
Geschätzte Frau OK-Präsidentin
Geschätzter Herr Bundesrat, lieber Ueli
Geschätzter Herr alt Bundesrat, lieber Christoph
Geschätzte Regierungsrätinnen und Herr Regierungsrat und alt Regierungsräte
Geschätzte Nationalrätinnen und Nationalräte und alt Nationalräte
Geschätzter Herr Kantonsratspräsident
Geschätzte Herren Exzellenzen und Würdeträger
Liebe Zürcher SVP-lerinnen und SVP-ler

Die letzten Tage war ich etwas unterwegs. Der Tagi meinte: Berlin – Genf – Albisgüetli. Ich sage Baerbock – Blinken – Blocher. Die drei «B» der nationalen und internationalen Politik innert 48 Stunden zu treffen ist das Privileg des Bundespräsidenten - der wohl schönste Job der Welt! In Berlin konnte ich mit unseren deutschen Freunden über Europa sprechen. In Genf die wichtige Rolle des internationalen Genf betonen. Und jetzt in die europapolitische Höhle des Löwen – das Albisgüetli. Ich freue mich auf einen spannenden Austausch mit der Zürcher SVP! Geschätzte Damen und Herren. Vielen Dank für die Einladung und den warmen Empfang.

Vor vier Jahren war ich das erste Mal bei Ihnen auf dem Albisgüetli. Es war in meinen ersten 100 Tagen als Bundesrat. Ich habe über Europa gesprochen. Jetzt bin ich zu Beginn meines Präsidialjahres hier und ich spreche… bitte keine faulen Eier schmeissen… immer noch über Europa. Ja, das Thema lässt uns auch nach dem Ende des Rahmenabkommens nicht los. Aber als Bundespräsident weite ich das Themenspektrum aus: Ich spreche auch über Corona.

1. Covid: vom Bier zur globalen Krise

Einverstanden: «Nicht schon wieder Corona!». Wir alle haben es gehört, gesehen und haben definitiv genug davon. Wir alle wünschen uns die Normalität zurück. Ich kann Ihnen versichern, auch der Bundesrat - und ich kann mir vorstellen auch Ihre Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli - freut sich darauf wenn Corona einfach wieder eine Biermarke ist. Noch ist es nicht so weit.

Corona steht für eine Krise, die uns als Menschen und als Land sehr stark fordert. Ich muss gar nicht lange ausführen, warum das der Fall war. Sie haben es alle erlebt. Es sterben Mitmenschen. Wir mussten und müssen unsere Freiheit einschränken. Der Bund musste mit vielen Milliarden die Wirtschaft und das öffentliche Leben unterstützen. Auch dem Bundesrat war das nicht immer geheuer.

Meine Damen und Herren. Es ist eine grosse Krise, aber es ist nicht die erste Krise, mit der sich unser Land konfrontiert sieht. Und wir können aus diesen Krisen für die aktuelle lernen.

2. Sonderbundskrieg: Befehl zum Dialog

Der letzte bewaffnete Konflikt auf Schweizer Boden liegt 175 Jahre zurück: Beim Sonderbundskrieg von 1847, gingen das letzte Mal bewaffnete Schweizer aufeinander los. Der Krieg dauerte 26 Tage, etwa hundert Menschen starben.

Aber schon während des Kriegs, war der Blick auf das Danach gerichtet. Der Krieg wurde mit der Absicht geführt, eine gemeinsame Zukunft zu ermöglichen. Respekt und Rücksicht selbst in der Eskalation. Ein eindrücklicher Beweis dafür ist der Tagesbefehl von General Dufour vom 23. November 1847. Er befiehlt, die Besiegten und die Zivilbevölkerung unter allen Umständen zu schonen. Er wollte keinen Hass. Keine unnötige Gewalt.

Das ist Sinnbild für den Willen der Schweiz zusammenzuhalten. Der Grundstein, dass aus dem Staatenbund unser Bundesstaat entstehen konnte. 

3. Landesstreik: mit Dialog zurück zur Einheit

Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Schweizer auf Schweizer schossen. Gut 70 Jahre später kam es zum Landesstreik von 1918. Die Auseinandersetzungen forderten drei Menschenleben. Die Situation eskalierte damals nicht weiter, weil beide Seiten einen Schritt aufeinander zumachten: Die streikende Linke brach den Generalstreik ab. Der Bund nahm einige ihrer Anliegen auf. Es war der Startschuss für zahlreiche Reformen, die heute unbestritten sind wie die AHV oder das Frauenstimmrecht.

Übrigens, das Jahr 1918 ist auch aus Parteiperspektive spannend. Mit der Gründung ihrer Vorgänger-Partei der BGB stürzten Sie meine Partei in eine längere Krise…

4. Zweite Weltkrieg: Kampf gegen die Vielfalt

Quasi am Abgrund stand die Menschheit in ihrer bisher grössten Krise - im Zweiten Weltkrieg. Kulturelle und sprachliche Vielfalt galt als Störfaktor – als Fehler der Natur. Menschen mit einer anderen Religion, Herkunft oder einer anderen Meinung wurden verfolgt, unterdrückt oder kurzer Hand ermordet. Letzten Sonntag hatte ich die Ehre, Fishel Rabinowicz im Tessin zu treffen. Er ist 97 Jahre alt und einer der letzten Holocaust-Überlebenden in der Schweiz. Seine Erinnerungen und Gedanken zu hören, mich mit ihm auszutauschen war beindruckend und bedrückend.

Wir dürfen diese Geschichte nie vergessen und auch nie wiederholen.

5. Schweiz: ein dauernder Akt des Zusammenraufens

Liebe Zürcherinnen und Zürcher, liebe SVP-lerinnen und SVP-ler. Ich habe Ihnen drei Beispiele genannt von Krisen der Welt, der Menschheit, der Schweiz. Sie sind nicht miteinander vergleichbar. Aber sie zeigen im Grunde etwas an sich Banales: um Krisen und Kriege zu verhindern und zu lösen müssen wir aufeinander zugehen. Miteinander reden. Einander zuhören.

Wenn uns unsere eigene Geschichte etwas gelehrt hat, dann, dass unser Zusammenhalt stark ist. Die Pandemie mag uns auseinandertreiben, aber sie wird uns nicht spalten. Davon bin ich überzeugt. Und unsere Vielfalt ist unsere Stärke – egal, ob politisch, sprachlich, kulturell oder religiös. Diese Vielfalt ist nicht gottgegeben. Genauso wenig wie unser Zusammenhalt. Wir tun gut daran, den Säulen unseres Landes – Gesellschaft, Föderalismus und Wirtschaft – Sorge zu tragen.

• Erstens die Gesellschaft: Statt einander anzuschreien, gehen wir wieder aufeinander zu.
• Zweitens der Föderalismus: Wagen wir mehr Föderalismus, nicht weniger. Wir müssen Aufgaben entflechten und klare Verantwortlichkeiten schaffen.
• Drittens die Wirtschaft: Sie muss schnell wieder ohne staatliche Unterstützung auskommen. Es gibt kein Menschenrecht auf Gratisgeld.

Persönlich bin ich der Meinung, dass der Bundesrat bisher einen guten Weg gefunden hat. Er hat Mass gehalten, ohne in Hektik zu verfallen. Im internationalen Vergleich ist die Schweiz bisher ziemlich gut durch diese Krise gekommen. Als Arzt sage ich Ihnen zudem, der Weg in die Normalität geht nur über Antikörper im Blut. Das passiert nur über die Impfung oder die Heilung.

6. Europa: quo vadis vier Jahre danach

Liebe Damen und Herren.

So, jetzt komme ich zu Ihrem Lieblingsthema: Europa. In meiner letzten Rede hier, war das Rahmenabkommen in aller Munde. Damals sagte ich zu Ihnen:
«Kommen wir [beim InstA] zu keinem Ergebnis innerhalb der festgelegten Leitplanken, wird es keinen Deal mit der EU geben. Punkt. Wir sind zu nichts verpflichtet und wir können frei entscheiden!»

Und wir haben entschieden. Sie wissen es, der Bundesrat hat im Mai letzten Jahres beschlossen, die Verhandlungen zu einem Rahmenabkommen zu beenden. Für viele unter Ihnen ein logischer Entscheid. Für den Bundesrat war dieser Entscheid aber alles andere als einfach. Persönlich habe ich mich für eine gute Lösung eingesetzt. Aber ich musste auch am Schluss einsehen, dass es schlicht nicht reicht. Die EU war nicht bereit, uns diejenigen Zugeständnisse zu machen, die in der Schweiz für eine mehrheitsfähige Lösung benötigt waren. Zu gross waren die Differenzen in den Bereichen des Lohnschutzes, der Unionsbürgerrichtlinie und den staatlichen Beihilfen.

Die Frage ist nun: Wie geht es jetzt weiter? Oder wie es einer meiner Gesprächspartner gestern in Berlin erfrischend locker formulierte: «Wie kommt ihr denn mit der EU klar?»

Nun, ich habe ihm gesagt, was ich auch Ihnen hier auch sage:
Der Bundesrat will weiterhin geregelte und stabile Beziehungen zur EU. Sie sind viel zu wertvoll, als dass wir sie einfach in Frage stellen. Vergessen Sie nicht: Es geht auch um einen täglichen Warenaustausch von einer Milliarde Franken. Wir wollen die langjährigen und für beide Seiten vorteilhaften Beziehungen mit der EU fortführen, stabilisieren und, wenn im gegenseitigen Interesse, auch ausbauen.

Aber wie genau? Der Bundesrat ist derzeit daran das zu definieren. Mein Kollege im Saal weiss, wovon ich spreche. Und Sie liebe Anwesenden haben sicher Verständnis, dass ich hier nicht mehr dazu sagen kann. Eines kann ich Ihnen aber sagen: Ein InstA 2.0 wird es nicht geben.
Und es ist wichtig, dass wir bei aller Emotionalität, die das Thema ja durchaus auch bietet, stets bei den Fakten bleiben. Diese nüchtern analysieren und dann verantwortungsvoll einen neuen Weg einschlagen. Auch das habe ich gestern bei meinen Gesprächspartnern in Berlin gut gespürt.

7. Fazit: lieber mal zuhören, statt reden

Meine Damen und Herren. Es ist wie bei den Diskussionen zu Corona: viele schreien, wenige hören zu. Aber bereits der Dalai Lama wusste: «Wenn du sprichst, wiederholst du nur was du schon weisst. Wenn du aber zuhörst, kannst du Neues lernen.» Zuhören ist nicht immer einfach. Zuhören bedingt Geduld, Interesse an anderen Meinungen und an anderen Menschen.

Nun habe ich genug gesprochen und nun möchte ich Ihnen zuhören. Was wir jetzt alle noch wissen wollen, ist wer die Hauptpreise bei der Tombola gewinnt. Viel Erfolg Ihnen allen, danke für die Aufmerksamkeit und wie immer ihre nette Gastfreundschaft.


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