«Noi siamo uomini»

St. Gallen, 29.06.2019 - St. Gallen, 29. Juni 2019 - Grusswort von Bundeskanzler Walter Thurnherr an der Rotkreuzversammlung vom Schweizerischen Roten Kreuz

Die wirklich wichtigen Dinge im Leben lassen sich in einfachen Sätzen ausdrücken. «Ich habe Hunger», «Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich» (Art. 8 Abs. 1 BV), «Glück kann man nicht kaufen. Alkohol schon». Es ist nicht alles wichtig und schon gar nicht alles richtig, was in kurzen Sätzen daherkommt – ganz im Gegenteil. Aber die wichtigsten Dinge, die wir im Leben aussprechen, sind weder dreifach verschachtelte Relativsätze noch ängstlich zwischen «Wenn» und «Aber» aufgespannte Hauptsätze, sondern sie sind von der Art: «Ich liebe Dich». Subjekt, Verb, Objekt. Und es ist eine wunderbare Erfahrung, dass sich die wichtigsten Grundsätze in der Beschreibung der Natur ebenfalls in einfachen Gleichungen formulieren lassen.

In unserer Schulzeit haben wir viel gelernt. Vom Cosinus-Satz bis zum Passé Simple. Und jene, die das weniger interessiert hat, haben zumindest den informellen Soziologie-Unterricht auf dem Pausenplatz genossen und sind vielleicht später in die Politik eingestiegen. Wir haben ausgezeichnete Schulen: Volksschulen, Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten. Aber was uns bildet, prägt und ausmacht, ist nicht nur, was wir in der Schule lernen. «Prima di essere ingegneri voi siete uomini» – «Ihr seid Ingenieure, aber in erster Linie seid Ihr Menschen» – steht im Hauptgebäude der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich auf einer steinernen Tafel zum Andenken an Francesco de Sanctis (1817 – 1883), der im 19. Jahrhundert an der ETH lehrte. De Sanctis, an den sich heute kaum einer erinnert, wurde später, 1861, erster Bildungsminister im neu ausgerufenen Königreich Italien unter Vittorio Emanuele. Nach jahrelangen Wirren und brutalen Schlachten in der Lombardei, darunter eben auch jener von Solferino, die fast auf den Tag genau vor 160 Jahren stattfand und einer der Gründe ist, weshalb wir heute hier sind. Ein anderes Gemetzel war jenes kurz zuvor, bei Magenta, bei der so viel Blut floss, dass angeblich sogar eine rötliche Farbe – eben Magenta – nach der Schlacht benannt wurde. Die Erklärung des damals 29-jährigen Kaisers Franz Joseph, mit der er den Krieg gegen Sardinien-Piemont proklamiert hatte, gleicht bis zu den verwendeten Ausdrücken und Wendungen gespenstisch dem Manifest, mit dem derselbe Kaiser 55 Jahre später, im Juli 1914, den Entschluss verkündete, «den unaufhörlichen Herausforderungen Serbiens ein Ende (zu) bereiten». Im ersten Weltkrieg floss dann vier Jahre lang jeden Tag durchschnittlich drei Mal so viel Blut wie in Magenta. Und für diese fünfzehnhundert Tage sind uns die Farben ausgegangen.

Was uns mindestens so bildet wie das Schulwissen, sind einfache Grundsätze und Reflexe und Verhalten, die uns unsere Mütter vorleben. Oder wie es ein anderer Italiener, Umberto Eco, sagte: «Ich glaube, was wir werden, hängt von dem ab, was uns unsere Väter beibringen, wenn sie uns eigentlich gar nichts beibringen wollen. Kleine Schnipsel von Weisheit sind das, was uns formt». Solche Schnipsel lassen sich weder per Gesetz verordnen noch in Schullektionen instruieren, und dennoch sind sie unerhört wichtig. Die Gesellschaft ist schliesslich kein Nussbaum, der wie von selbst weiterwächst und jedes Jahr mehr Früchte abwirft, die man fröhlich aufsammeln kann. Wer hier etwas mitnehmen will, muss sich auch einbringen, sich einsetzen und beitragen, sollte erziehen, ermutigen, helfen und pflegen und Menschlichkeit beweisen, und zwar nicht, weil man dabei etwas verdient, oder weil es vorgeschrieben wird, sondern weil es richtig ist. «Prima di essere ingegneri voi siete uomini» – keine neue Feststellung, kein komplizierter Satz, und auch kein Zufall, dass die Aufforderung mitten in der Industrialisierung formuliert worden war, sondern eine schlichte Mahnung, die sitzt.

Ich frage mich, was der alte de Sanctis heute, im Zeitalter der Digitalisierung, sagen würde, wo alle miteinander vernetzt sind, aber keiner mehr mit seinem Gegenüber spricht. Ich meine, wir folgen allerlei Leuten auf Twitter, schwärmen auf Facebook für die seltsamsten Persönlichkeiten, chatten mit Unbekannten auf allen Kontinenten, flirten genüsslich auf Tinder. Und wenn uns im Zug ein Fremder anspricht, denken wir als erstes: «Oh mein Gott, vielleicht ist der Kerl ein Krimineller». Wir reagieren in diesen Zeiten zuweilen emotionaler aber nicht unbedingt menschlicher als in der Vergangenheit.

Aber de Sanctis würde wahrscheinlich auch staunen. Über die zahllosen Vereine, Bewegungen und Initiativen in der Schweiz, die mit grossem Idealismus andere unterstützen – mit Kleiderbörsen, mit Gemeinde-bibliotheken, mit Hilfestellungen an Behinderte und Betagte. Insgesamt sind das in der Schweiz pro Jahr über 660 Millionen Stunden Freiwilligenarbeit. Und er würde sich die Augen reiben, wenn er sähe, was aus dem «Hülfsverein für schweizerische Wehrmänner und deren Familien» – eben dem Schweizerischen Roten Kreuz – geworden ist.

Meine Damen und Herren, in unserer Schulzeit haben wir viel gelernt. Und einiges davon wieder vergessen. Was mir persönlich geblieben ist, spielte sich kurz nach Schuleintritt ab, in der grossen Aula des Schulhauses. Alle Erst- und Zweitklässler – und damals waren das viele – wurden in einer Kolonne aufgestellt. Langsam bewegte sich die flüsternde Schlange weisser Unterleibchen die flache Treppe der Aula hinunter und steuerte unter den wachsamen Augen der weiss beschürzten Samariterinnen einem kleinen Tischlein zu, an dem ein streng blickender, ebenfalls weiss gekleideter Arzt hockte und mir schliesslich ein Andenken in Form einer Pockenimpfung verpasste. Zehn Jahre später absolvierte ich den Nothelferkurs, und kurz darauf spendete ich das erste Mal Blut. Und dabei fiel mir auf: Die Leute, die da halfen, assistierten und Hand anlegten, waren dieselben, die beim Schuleintritt die Pockenimpfung überwachten. Ich kannte sie inzwischen. Ein Schulabwart war dabei, eine Schneiderin und eine Frau aus der Gemeindebibliothek, und Letztere machte mich beim Arm-Abbinden gleich darauf aufmerksam, dass ich ihr schon längst ein Buch hätte zurückbringen sollen. Und mich dünkte, sie zog das Band auch entsprechend stark an.

Sie machten ihre Arbeit eigenständig und mit einem feierlichen Ernst. Und mit einem Schlag wurde mir bewusst, dass diese Leute – nicht mit einem spektakulären Sprung, sondern in tausend kleinen Schritten – eigentlich Unerhörtes leisteten. Das ist mir eingefahren und als ein kleiner Schnipsel von Erfahrung im Sinne von Umberto Eco in Erinnerung geblieben, und der Grund, weshalb ich heute gerne zu Ihnen gekommen bin: Ich danke, persönlich und im Namen des Bundesrates, Ihnen und überhaupt allen Mitgliedern des Schweizerischen Roten Kreuzes, bis hinauf zur Präsidentin Annemarie Huber-Hotz, und besonders natürlich dem Kantonalverband St. Gallen, der heute sein 125-jähriges Jubiläum feiert, für Ihre Arbeit und vor allem für Ihre Haltung. Denn Sie haben etwas verstanden, was wir in der Schule zwar lernen, aber erst im Leben begreifen können – den einfachen Satz: «Noi siamo uomini».


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