Die Schweiz ist ein Land des Dialogs

Bern, 29.05.2018 - Rede von Bundespräsident Alain Berset anlässlich der Verleihung des 1. Dialogpreises des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes und der Plattform der Liberalen Juden der Schweiz. (Deutsch/Französisch) Es gilt das gesprochene Wort.

Die Geschichte der Schweizer Juden war lange Zeit eine Geschichte der Ausgrenzung. Stigmatisierende Judenbilder prägten den Diskurs und nicht die aufrichtige Begegnung auf Augenhöhe.

Nachdem die Schweizer Juden am 14. Januar 1866 endlich zu gleichberechtigten Bürgern wurden, kommentierte Ständeratspräsident Johann Jakob Rüttimann, ein Weggefährte von Alfred Escher: «Indem das schweizerische Volk (...) ein altes Unrecht an einer Minderheit gut machte, hat es einen schönen Sieg, einen Sieg über seine eigenen Vorurteile erfochten.»

Ein «Sieg über die eigenen Vorurteile» - das ist auch heute noch ein Kriterium für echten politischen und sozialen Fortschritt.

Die Schweiz wurde erst durch die Inklusion immer weiterer Bevölkerungsteile wirklich zu jener Schweiz, die wir heute kennen und schätzen. Zum Land, das sein demokratisches Versprechen einhält: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Rechtsgleichheit, die Handels- und Gewerbefreiheit, die demokratischen Grundrechte. Zum Land, das seine Minderheiten als Bereicherung wahrnimmt, ihnen mit Respekt begegnet - und nicht einfach mit Toleranz. Toleranz, ein Begriff, der demokratische Reife suggeriert, der aber einen unangenehm paternalistischen Unterton hat.

Die Stärke der Schweiz wächst mit der Stärke ihrer Minderheiten. Auch in unserem Land mussten und müssen die Minderheiten den ihnen gebührenden Respekt energisch einfordern und die Errungenschaften sichern. Ihre Freiheit stärken, indem sie sie selbstbewusst nutzen.

Die Stellung der Minderheiten ist stets ein Test für ein Land, für seine politische Kultur, sein Selbstverständnis. Dieser Test ist nie abgeschlossen. Politischer und sozialer Fortschritt ist nie linear. Sozialer Fortschritt setzt immer Engagement voraus. Er setzt voraus, dass man aufeinander zugeht

Auch die pluralistische Schweiz ist kein Selbstläufer - sie war es nie. Das friedliche Zusammenleben ist nicht einfach gegeben, es muss immer wieder neu erarbeitet werden, manchmal auch gegen innere Widerstände der Beteiligten.

In der Schweiz müssen wir immer wieder einen gemeinsamen Nenner finden, der gross genug ist, damit das Land funktioniert, aber klein genug, damit alle nach ihren eigenen Vorstellungen leben können.

Ist das überhaupt möglich? Ja, in der Schweiz ist es das. Denn wir sind zum Glück eines der kompliziertesten Länder der Welt. Ein Land, dessen Bewohner kaum etwas teilen - weder Religion noch Sprache, weder Geschichte noch Mentalität - und das trotzdem stabil ist. Mehr noch: Dessen Stabilität im internationalen Vergleich geradezu mythisch anmutet. Die Schweiz ist stabil, weil die Gefahr der Instabilität so gross ist. Und sie also ihre innere Balance täglich neu finden muss.

Nous vivons une époque paradoxale : Nous n'avons jamais disposé d'autant d'informations qu'aujourd'hui - mais simultanément les stéréotypes et les préjugés se multiplient.

Internet a bouleversé le monde - avec des conséquences aussi bien positives que négatives. En effet, Internet ne s'est pas seulement établi comme le moyen de communication d'une société de l'information éclairée, il s'est aussi développé en un endroit qui abrite l'obscurantisme, un espace de résonance où les préjugés sont préservés et cultivés, où la formation de l'opinion dans les sociétés démocratiques peut être manipulée avec une effrayante facilité par les fake news et les trolls. 

Ces adversaires de la démocratie ne se reposent jamais - et nous ne devons pas leur laisser la voie libre. Car si nous reculons face à une politique de la haine, nous la renforçons. Nous ne devons pas cesser notre travail d'information.

Et le support de l'information est le dialogue. Le dialogue, c'est une discussion qui est poursuivie, même dans des conditions difficiles. Le dialogue est la réponse la plus durable et efficace à l'insécurité, à la défiance, aux préjugés et à la haine. Nous sommes une nation de dialogue - et l'écoute en fait partie.

La rencontre directe avec des membres d'autres religions, telle que le propose le projet LIKRAT dans les classes de notre pays, est un modèle exemplaire de dialogue. Le face à face, la rencontre, est en effet le moyen le plus simple et le plus rapide de combattre les préjugés.  Et le projet LIKRAT est aussi un travail démocratique au meilleur sens du terme. Car la démocratie directe est la structure étatique qui favorise une rencontre directe empreinte de respect.

Je suis particulièrement heureux que les minorités juives et musulmanes de notre pays - contrairement à d'autres pays européens - travaille et s'affiche ensemble. La présence de représentants musulmans ce soir en est la preuve.

Depuis quelque années, l'antisémitisme en Europe se développe de manière inquiétante. Dans de nombreux pays, un nationalisme qui projette son malaise face à la modernité entre autres sur les Juifs se renforce. Et les discours de haine, les agressions, les actes de violence et les attaques contre des personnes ou communautés juives se sont multipliés dans certains pays européens. D'une manière qui aurait été inimaginable il y a quelques années encore.

Die Schweiz steht punkto gewalttätiger Übergriffe bisher zum Glück besser da als andere Länder in Europa. Es gibt aber auch in der Schweiz eine Bedrohungslage durch Gewaltakte und Terror für Jüdinnen und Juden sowie für jüdische Einrichtungen. Jeder Übergriff ist ein Angriff auf unsere ganze Gesellschaft. Jede Aggression gilt letztlich allen, die wir in einer offenen Gesellschaft leben. Und weiterhin leben wollen.

Es gehört zu den ureigensten Aufgaben von Bund und Kantonen, ihre Bürgerinnen und Bürger vor Angriffen auf Leib und Leben zu schützen. Der Bundesrat wird in den nächsten Wochen ein Konzept zur Sicherheit von Minderheiten mit besonderen Schutzbedürfnissen verabschieden. Dieses wurde gemeinsam von Bund, Kantonen, Städten sowie der jüdischen und muslimischen Gemeinschaft erarbeitet. Und bereits heute ist klar: dieser Dialog hat uns weitergebracht.

So wie der Staat die Freiheiten seiner Bürger verteidigen muss, ist es an den Bürgerinnen und Bürgern, diese Freiheiten zu nutzen und sich für diese zu engagieren: so wie es die Schweizer Jüdinnen und Juden vorleben. Wer sich für seine Identität, seine Rechte einsetzt - ohne dabei das Verbindende aus den Augen zu verlieren - stärkt die Schweiz. Und macht die Schweiz zu einem besseren Land.

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die Plattform der Liberalen Juden der Schweiz setzen sich als Dachverbände der Schweizer Jüdinnen und Juden für die Vielfalt in unserem Land ein. Gegen Ausgrenzung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Und für eine Schweiz, in der verschiedenste Kulturen und Religionen in Frieden zusammenleben.

Indem sie die Schweizer Juden stärken, stärken die beiden Organisationen die Schweiz - eine aufgeklärte Schweiz, deren Bürger in einem ständigen Dialog miteinander stehen. Genauer: Durch diesen Dialog miteinander verbunden sind.

Wir sind keine Kulturnationalisten - und wir können zum Glück gar keine sein. Unserem Land fehlen die gängigen Attribute einer Nation: eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Religion und der politische Wille zur kulturellen Gleichschaltung.

Es ist vielmehr unsere kulturelle Vielfalt, es sind unsere gemeinsamen Institutionen und immer wieder aufs Neue definierter Gemeinsinn, die uns zu dem machen, was wir sind.

Die Schweiz beweist, dass Identität kein Nullsummen-Spiel sein muss, wie mancherorts suggeriert wird. Sondern dass man problemlos mehrere Identitäten haben kann und diese Vielfalt und Vielschichtigkeit ein Gewinn ist - individuell und für die Gesellschaft als Ganze.

Eine starke Identität kann in Hinwendung entstehen - indem man sie verbindet mit der Selbstverpflichtung, das Gemeinsame immer wieder neu zu erarbeiten. Indem man «aufeinander zu» geht. Oder eben auf Hebräisch: Likrat

Wir sind ein Land, das sich nicht gefährdet fühlt durch die verschiedenen Kulturen in seinem Innern - sondern ein Land, das weiss, dass seine Stärke genau in einer gewissen Offenheit besteht. Und ein Land, das gar nicht sich in den Wahn der Eindeutigkeit - der ein für alle Mal gegebenen Identität hineinsteigern kann - weil es diese gar nicht gibt.

Wir sind ein Land, dessen Vielfalt eine wunderbar reiche Kultur hervorgebracht hat. Man kann sich entfalten, man integriert sich, man gestaltet mit - und kann doch der bleiben, der man ist.

Wenn wir von der Schweiz reden, reden wir immer auch von den Minderheiten. Wenn es um die Minderheiten geht, dann geht es auch immer um die Schweiz. Wenn es den anderen gut geht, dann geht es auch uns selber gut: Das ist die wahre Schweizer Zauberformel.


Adresse für Rückfragen

Peter Lauener, Mediensprecher des EDI, Tel. +41 79 650 12 34


Herausgeber

Generalsekretariat EDI
http://www.edi.admin.ch

https://www.admin.ch/content/gov/de/start/dokumentation/reden/reden-der-bundesraete.msg-id-70939.html