2007 - Neujahrsansprache von Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey

1. Januar 2007 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Einwohnerinnen und Einwohner unseres Landes!
Liebe Schweizerinnen und Schweizer im Ausland!
Liebe Gäste in der Schweiz!

Für alle von uns sind die Festtage besondere Momente. Wir halten inne und finden Zeit für uns selbst und Zeit füreinander. Ich hoffe, die meisten von Ihnen erleben Freude und Freundschaft, aber ich denke auch an die Kranken und die Entmutigten, und an jene, die es schwer haben, für Ihre Familie aufzukommen, obwohl unser Land wirtschaftlich blüht. Ich denke an alle, denen nicht gleichgültig ist, dass wir Raubbau an unserer Umwelt betreiben.

Arbeit für alle, soziale Sicherheit, Umweltschutz: Wir stehen vor grossen Herausforderungen. Vergessen wir dabei vor allem nicht, dass wir gemeinsam Erfolg haben können. Wir sind eine Gemeinschaft. Und gemeinsam können wir die Probleme meistern. Der Bergbauer in Bergün und die Bundespräsidentin aus Genf, die Architektin in Mendrisio und der Buschauffeur in Zürich gehören zusammen.

Was uns verbindet, ist der Wille zur Zusammenarbeit in unseren Institutionen. Direkte Demokratie und Föderalismus eröffnen einzigartige Möglichkeiten der Gestaltung unseres Gemeinwesens. Sie erlauben, unsere Differenzen friedlich auszutragen und in Harmonie zu leben.

Die Schweiz hat es verstanden, verschiedene Religionen, Sprachgruppen und Kulturen in friedlichem Zusammenleben zu vereinen. Diese grosse Integrationskraft muss genährt werden, immer von neuem. Sie setzt gegenseitigen Respekt vor dem Anderssein voraus, und die Bereitschaft aller, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Sie beruht auf dem Willen zum Dialog.

Das ist nicht selbstverständlich, und ist es nie gewesen. Integration fordert allen eine Anstrengung ab. Integration heisst Chancengleichheit für alle – unabhängig von Herkunft und Geschlecht. Wir werden zum Beispiel eine Chancengleichheit für Mann und Frau erreichen, wenn die Frauen Beruf und Familie besser verbinden können, und wenn sie bei gleicher Leistung gleiche Löhne erhalten.

Was uns verbindet, ist der Wille zur Solidarität mit den an den Rand gedrängten Menschen. Sie hat bei uns eine lange Tradition. In Glarus entstand im 19. Jahrhundert das erste Arbeitsgesetz. Im 20. Jahrhundert schufen unsere Väter die AHV, die in diesem Jahr 60 Jahre alt wird.

Heute stehen wir vor einer neuen Aufgabe. Mit der Globalisierung erleben wir ein neues Zeitalter. Von ihr profitieren – weltweit und in der Schweiz – nicht alle gleich. Unter dem Druck des Wettbewerbs werden die Arbeitsbedingungen flexibler, bis hin zur Unsicherheit. Die Kluft zwischen hohen und tiefen Einkommen wächst. Es gibt unter uns Menschen, die es schwer haben, ja sogar in Armut leben. Das zwingt uns zum Handeln, denn die soziale Ungerechtigkeit ist eine Bedrohung für unseren Zusammenhalt.

Was uns weiter verbindet, ist der Wille, die Umwelt zu achten. In den Alpentälern hat der Respekt vor der Natur die Menschen schon immer näher gebracht. So entstanden die Bannwälder gegen Lawinen, als gemeinsames Werk einer Schicksalsgemeinschaft. Heute müssen wir einen ähnlichen Kampf gegen die Klimaerwärmung führen. Wir haben schon viel Zeit verloren.

Unsere Welt ist komplizierter geworden. Die Sicherheiten von gestern sind morsch. Die Grenzen werden fliessend. Weit entfernte Ereignisse beeinflussen unser tägliches Leben. Als Aussenministerin ist es meine Aufgabe, die Sicherheit und den Wohlstand des Landes zu wahren. Das werde ich weiterhin mit Überzeugung tun. Aber das Amt der Bundespräsidentin ist eine wunderbare Gelegenheit, Sie – die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Landes – anzuhören, Ihre Sorgen und Ihre Hoffnungen aufzunehmen und in den Bundesrat zu tragen. Ich werde diese Rolle als Mediatorin sehr ernst nehmen.

Auch Politik macht uns zur Gemeinschaft. Politik hat die Aufgabe, Regionen, Kulturen, Sprachgruppen, Regierende und Regierte – kurz: uns alle – zusammen zu führen, zum Sprechen zu bringen.

Meine Damen und Herren

Wir lösen die anstehenden Probleme nicht gegen, sondern mit dem Staat. Mit einem starken, respektierten und solidarischen Staat. Mit einem Staat, der für Sie da ist und nicht umgekehrt. Ein Staat, der Probleme meistert und nicht verwaltet. Ein Staat, der die Werte und Traditionen der Schweiz hoch hält. Ich lade Sie ein, in diesem Jahr darüber nachzudenken, was unser Land zusammenhält. Die Schweiz ist ein solidarisches, demokratisches Land. Es gewinnt seine Stärke aus der Vielfalt und seine Kraft aus der Diversität. Wir wissen, wer wir sind und was wir wollen. Deshalb müssen wir keine Furcht vor der Zukunft und vor dem Fremden haben.

Ich wünsche Ihnen Zuversicht, Freude und Gesundheit. An alle gehen meine herzlichen Wünsche für ein gutes, glückliches Jahr.

Download Neujahrsansprache 2007 (MP3, 4 MB, 12.09.2014)

Letzte Änderung 30.11.2015

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