2006 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Moritz Leuenberger

1. Januar 2006 - Es gilt das gesprochene Wort

Meine Damen und Herren,

Für das jährliche Foto des Gesamtbundesrates habe ich Berufsschülerinnen und –schüler um Rat gefragt. Sie haben mir den Vorschlag gemacht, den Bundesrat um das Schweizer Kreuz herum zu gruppieren. Die Aufnahme ist heute in den Zeitungen und Sie sehen, wie friedlich wir Sieben da zusammen stehen. Es ist ein harmonisches und auch patriotisches Bild geworden.
Die Schülerinnen und Schüler haben auf ihre Weise sehr direkt und frisch-fröhlich gezeigt, was sie vom Bundesrat erwarten, nämlich dass er geschlossen für die Schweiz zusammensteht.
Das erwarten ja auch Sie. Sie wollen, dass die Politikerinnen und Politiker gemeinsam für unser Land arbeiten. Da haben Sie völlig Recht.
Nicht alle haben dieselbe Vorstellung über die Schweiz. Dennoch arbeiten wir gemeinsam an ihrer Zukunft. Für diese Gemeinsamkeit steht das Schweizer Kreuz.
Der gemeinsame Einsatz für die öffentliche Sache, für unser Staatswesen, gibt diesem Land die innere Kraft. Wir haben diesen inneren Zusammenhalt und ich bin froh darüber. Gerne erinnere ich mich, wie sich die Menschen nach den Unwettern im vergangenen Spätsommer gegenseitig geholfen haben. Ich weiss um die freiwilligen Dienste im Rettungswesen, im sozialen Bereich, in der Kultur und im Sport. Da wird Enormes geleistet. Es ist ja auch schön, Verantwortung wahrnehmen zu können. In diesem Geist wollen wir unser Land auch weiterhin gestalten.
Unser Land setzt sich aus verschiedenen Minderheiten zusammen, kulturell, sprachlich, sozial und politisch. Da ist es die Aufgabe der Politik, besonders der Regierung, den Ausgleich zu suchen, Kompromisse zu finden und diese dann gemeinsam umzusetzen. Das macht die Konkordanz aus, die jetzt diskutiert und in Frage gestellt wird, der wir aber Vieles zu verdanken haben. Denken wir nur an die Altersvorsorge, an die Betreuung in Spitälern und Pflegeheimen. Denken wir an Bahn, Post und Strassen, an die Schulen, an das kulturelle Angebot. Das sind Leistungen, welche Schweizerinnen und Schweizer über Jahrhunderte hinweg geschaffen haben und uns auch Wohlstand gebracht haben.
Auch wir, die wir heute aktiv sind, müssen intakte Infrastrukturen und soziale Sicherheit erhalten und vorbereiten für spätere Generationen. Auch dies ist der Inhalt des Schweizer Kreuzes.
Die Aufgaben des Staates werden heftig diskutiert. Manche wollen sie drastisch reduzieren und mehr der Initiative Einzelner überlassen. Aber der Wettbewerb löst nicht alle Probleme. Er schafft ja nicht nur Sieger, er schafft auch Verlierer. Wir leben in einer Zeit, in der die Starken im Vordergrund stehen. Es gibt aber auch Schwache. Darum braucht es den Staat. Er kümmert sich um alle, auch um jene, die im Schatten leben. Das macht die Stärke unseres Landes aus.
Sicher haben Sie auch noch die Bilder von den brennenden Vorstädten in Frankreich in Erinnerung. Wir haben unsere Politik bis jetzt so organisiert, dass solches hier nicht geschah. Es ist unsere Aufgabe, dies auch weiterhin zu tun.
Das Schweizer Kreuz soll uns den Blick in die Welt nicht verstellen. Wirbelstürme und Gletscherschmelze haben dieselbe Ursache, die Klimaerwärmung. Umweltkatastrophen kennen keine Grenzen. Hunger und Armut auch nicht.
Ich erinnere mich an die Bilder, als Afrikaner, die aus Armut nach Europa fliehen wollten, in spanischen Exklaven von Soldaten mit Gewehren hinter Stacheldrahtzäune zurückgedrängt wurden. Mit Zäunen und Gewehren können wir der Armut aber nicht beikommen. Auf der Erde müssen Menschen nicht nur überleben, sondern sie müssen in Freiheit leben können. Das ist eine Aufgabe von uns allen. Deswegen arbeiten wir in den Gremien der UNO mit.
Die Jugendlichen, die ich um Rat für das Bundesratsfoto fragte, haben ganz unverkrampft das Schweizer Kreuz zum Symbol gewählt, vor das wir ohne Hemmungen stehen können. Wir müssen vieles ändern, aber wir sollten nicht leichtfertig gefährden, was wir erreichten: Den inneren Zusammenhalt, den Ausgleich zwischen allen Regionen, die gleichen Rechte für alle und einen starken, demokratischen Staat, der das alles garantiert.
Für diese Gemeinsamkeit, für diese Konkordanz steht das Schweizer Kreuz.
Dazu sind wir alle aufgerufen - wir im Bundesrat und Sie alle.
Ich wünsche Ihnen ein glückliches neues Jahr.

Download Neujahrsansprache 2006 (MP3, 3 MB, 17.03.2015)

Letzte Änderung 30.11.2015

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