2004 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Joseph Deiss

1. Januar 2004 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

Ich bin an einer Grenze aufgewachsen.
An der Saane – am Grenzfluss zwischen der französischen und der deutschen Schweiz. Sie zu überschreiten, fällt den Leuten hier nicht schwer, im Gegenteil.

Grenzen sind nur für jene Menschen bedrohlich, welche sie ausschliesslich von einer Seite her kennen.
Die französische und die deutsche Schweiz sind zwar in gewissen Dingen verschieden.
Aber sie gehören, wie auch die italienische oder die romanische Schweiz, fest zusammen.
Ohne die eine, sind auch die anderen unvollständig.

Und Sprachgrenzen sind nicht die einzigen Grenzen.
Kantons- und Parteigrenzen, Einkommens- und Berufsgrenzen sortieren die Menschen zuweilen klar und hart auseinander.
Auch Alter, Geschlecht, Arbeitslosigkeit oder Behinderung machen, dass Menschen nicht zueinander finden.
Es gibt überall und immer wieder Grenzen.

Und wozu dient die Politik ?
Sie soll dazu beitragen, Grenzüberschreitungen zu ermöglichen.

Und sie hat vor den schwierigen Herausforderungen, welche wir zur Zeit bewältigen müssen, eine grosse Bedeutung.
So ist für mich klar; wir werden sparen müssen.
Aber Sparen allein ist noch kein politisches Programm.
Ebenso klar ist auch, dass wir nächstes Jahr alles daran setzen müssen, damit unsere Wirtschaft wächst.
Nur schon um allen einen Arbeitsplatz zu sichern.
Aber Wachstum allein schafft noch nicht Glück.
Dazu braucht es auch Gerechtigkeit und Zufriedenheit.

Dies erreichen wir dann, wenn sich die Chancen aller, und nicht nur einiger weniger verbessern.
Chancengleichheit bedeutet für alle die Gelegenheit, sich gemäss seinen Neigungen und Fähigkeiten zu entfalten.
Diese Chancen anzubieten, ist Aufgabe der Politik.
Die Chance zu nutzen, ist Aufgabe von jedem Einzelnen.

Deshalb bin ich von zwei Dingen überzeugt:
Erstens, persönliche Verwirklichung, Glück im weiteren Sinn, hängt sehr direkt ab vom eigenen Einsatz, aber auch von der eigenen Gesundheit oder jener der Angehörigen.
Vom Verhältnis zur Familie und zu Freunden.
Von Rückschlägen und der Fähigkeit, diese zu überwinden.
Von Eigenverantwortung und von der Solidarität zu anderen.

Die Politik bildet den Rahmen, schafft Voraussetzungen; aber letztlich hängt ebenso viel von uns selbst ab.
Beim Jahreswechsel tun wir somit gut daran, uns auf jene Grundwerte zu besinnen, welche das persönliche Handeln bestimmen sollen.

Zweitens, schweizerische Politik wird nicht gelingen ohne Wille zum Kompromiss.
Es ist mir bewusst, in der Politik regiert die Forderung.
Und wo gefordert wird, werden Kompromisse gern als schwächliches Einlenken abgewertet.
Politik als Zank und Stank führt die spektakuläre Debatte vielleicht weiter, aber das Land mit Sicherheit nicht vorwärts.
Was unser Land braucht ist nationaler Zusammenhalt.

Sowohl persönlich als auch politisch sind wir dann erfolgreich, wenn wir es schaffen, die eigene Haltung auch aus der Perspektive der anderen zu beurteilen.
Von der gegenüberliegenden Seite des Flusses her hat man den besseren Überblick über das eigene Ufer.
Das ist hier an der Saane bei Barberêche so und das gilt auch anderswo, in der Politik.
Wenn die Schweiz sich durch etwas auszeichnet, dann ist es ihre Fähigkeit, über vorgegebene Grenzen hinweg Gemeinsames zu erkennen und Gemeinsames zu schaffen.
Und ich bin deshalb zuversichtlich, dass uns das in Zukunft ebenfalls gelingen wird.
In diesem Sinn wünsche ich Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, und all jenen, welche sich für kürzere oder längere Zeit in der Schweiz aufhalten, hier leben und arbeiten, im Namen des Bundesrates und aus ganzem Herzen, Gesundheit, Zufriedenheit, Glück und Gottes Segen.

Download Neujahrsansprache 2004 (MP3, 3 MB, 12.09.2014)

Letzte Änderung 30.11.2015

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