2003 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Pascal Couchepin

1. Januar 2003 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger
Sehr verehrte Damen und Herren

Im Namen meiner Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat und in meinem eigenen Namen wünsche ich Ihnen zuallererst ganz einfach ein gutes Jahr 2003!

Warum wünschen wir uns eigentlich Gutes zum neuen Jahr? Sicher nicht weil wir glauben, Wünsche könnten die Wirklichkeit ändern und auf magische Weise Nöte und Zweifel beseitigen und eitel Freude und Wohlbefinden auslösen.

Nein, mit unseren Wünschen drücken wir Freundschaft und Sympathie aus. Wir wollen unseren Freunden und Lieben sagen, dass wir ihr Leid oder ihren Kummer mittragen wollen und dass Erfolg und Glück der einen keineswegs die Chancen der andern mindern – ganz im Gegenteil. Kurz, mit unseren Wünschen sagen wir: "Ich mag dich gut, und ich möchte, dass es dir gut geht."

Mein erster konkreter Wunsch ist deshalb, dass heute viele Wünsche ausgetauscht werden, dass niemand sich einsam fühlt und alle sich fragen, wie sie mitten in der kalten Jahreszeit etwas mehr Wärme verbreiten können.

Unser Land muss wieder Vertrauen finden, Vertrauen in sich selbst, und es muss seinen Institutionen und all denen vertrauen können, die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortung tragen. Ich mache diesen Aufruf nicht aus dem naiven Glauben heraus, es sei alles einfach und löse sich auf wundersame Weise von selbst ...

Nein, diese Welt ist so komplex wie nie zuvor. Die Antwort darauf, warum wir so oder so handeln, ist nie einfach. Sicher ist, dass Fehler begangen wurden. Aber letztlich müssen wir uns entscheiden, ob wir uns von Zweifeln und unguten Gefühlen bedrücken lassen wollen oder ob wir nicht vielmehr gemeinsam an einer demokratischen Gesellschaft weiterbauen wollen, die zu Reformen fähig ist, die den jungen Generationen neue Möglichkeiten eröffnet und solidarisch zu den Schwächsten steht.

Mein zweiter Wunsch ist, dass wir uns zum Handeln und für die Zukunft entscheiden. Wer in den letzten Jahren das öffentliche Leben in Europa und besonders in der Schweiz verfolgt hat, stellt eines fest: Es ist viel leichter zu kritisieren als zu tragfähigen Lösungen für die Probleme unserer Zeit beizutragen. Auch in der Schweiz ist diese Tendenz offensichtlich. Die direkte Demokratie gibt aber jeder Bürgerin und jedem Bürger das Recht, konkret zu entscheiden. In unserem Land ist es gar nicht möglich, sich nicht für die Politik zu interessieren!

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Sie werden das ganze Jahr hindurch sagen können, was für eine Schweiz Sie wollen. Ob Sie eine offene, blühende und solidarische Schweiz wollen, oder ob Sie den Glauben daran verloren haben. Sie werden auch Gelegenheit erhalten zu sagen, wie wir das Verhältnis unseres Landes zu seinen Nachbarn gestalten wollen, namentlich das Verhältnis zur EU. Mit der EU teilen wir nicht nur den geographischen Raum , sondern auch gemeinsame Werte und wirtschaftliche Interessen. Es muss uns also ein Anliegen sein, den Dialog mit ihr weiterzuführen.

Im kommenden Herbst dann wird Ihr staatsbürgerlicher Einsatz von besonderem Gewicht sein: Mit den Gesamterneuerungswahlen unseres Parlaments können Sie die Weichen für die nächsten vier Jahre stellen.

Mein dritter Wunsch ist, dass Sie Ihr staatsbürgerliches Engagement auf den politischen und sozialen Zusammenhalt unseres Landes konzentrieren. Die Schweiz hat sich langsam geformt. Ihre Institutionen sind die Frucht ständiger Bemühungen um ein leicht verletzbares Gleichgewicht. Das harmonische und bereichernde Miteinander der Sprach- und Religionsgemeinschaften ist zu Stande gekommen, weil der politische Wille dazu vorhanden war.

In unserem Land werden berechtigte Eigeninteressen im Allgemeinen mit einer gewissen Zurückhaltung geäussert. Dadurch erhält jede und jeder Raum, die persönlichen Zukunftsprojekte zu verwirklichen und teilzuhaben am gemeinsamen Wohlstand.

Heute aber ist das Gleichgewicht in wichtigen Bereichen gestört. Mit dem enormen Tempo, in dem sich Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Wertvorstellungen verändert haben, ist vieles, dessen wir uns sicher glaubten, ins Wanken geraten.

Trotzdem aber bleibt das Ideal einer Gesellschaft bestehen, welche die Vielfalt respektiert und fähig ist, alle am Wohlstand teilhaben zu lassen. Zu diesem Ideal stehen wir, und für dieses Ideal kämpfen wir. Aber wir müssen gemeinsam Mittel und Wege finden, wie wir es in einem neuen Umfeld verändern können.

Das ist nicht leicht, aber wir sind dazu fähig, wenn wir es nur wollen. Erste Voraussetzung ist, dass wir die Probleme auf den Tisch legen und den demokratischen Dialog weiterentwickeln. Wir müssen den Mut haben, Entscheide zu treffen und manchmal auch ein Risiko auf uns zu nehmen.

Wenn wir einem goldenen helvetischen Zeitalter nachtrauern, so ist das nicht nur gefährlich; es ist falsch. Die grossen Epochen unserer Geschichte waren immer geprägt von der Kraft, Entscheide zu treffen – schmerzhafte Entscheide manchmal, aber echte.

Freuen wir uns aber auch darüber, dass die Schweiz immer wieder zu Überraschungen fähig ist. Gestatten Sie mir, nur für einen Augenblick auf den grossen Erfolg unserer Alinghi- Mannschaft hinzuweisen, die in der Südsee die Schweizerfahne hochhält.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

ich bekräftige Ihnen persönlich und im Namen des Bundesrates und der Behörden unseres Landes: Wir glauben an die Schweiz, wir haben Vertrauen in ihre Institutionen und in ihre Fähigkeit, sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Aber ohne Sie, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wird nichts gelingen. Wir brauchen Ihre Entscheide, und wir brauchen Ihr Engagement in der Familie, im Beruf und in der Politik.

Zum Schluss wünsche ich nur, dass dieses Engagement für jede und jeden eine Quelle der persönlichen Zufriedenheit wird und wir uns am Ende des Jahres sagen können: "Wir haben nicht alle Probleme unseres Landes gelöst, aber wir haben Fortschritte gemacht in einem demokratischen Geist, im gegenseitigen Respekt, in der Offenheit für die Bedürfnisse der andern und im Wohlwollen füreinander."

Wenn wir das schaffen – und wir können es –, dann haben wir einen echten Beitrag zur Geschichte unseres Landes geleistet.

Download Neujahrsansprache 2003 (MP3, 514 kB, 12.09.2014)

Letzte Änderung 03.12.2015

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