2001 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Moritz Leuenberger

1. Januar 2001 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Schweizerinnen und Schweizer im In- und Ausland
Liebe Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz

Der Jahresanfang stimmt uns zuversichtlich:

Es geht uns wirtschaftlich besser.
Ein Europa ohne Krieg kann Wirklichkeit werden.
Die Öffnung der Welt und der technologische Fortschritt verleihen uns ungeahnte Möglichkeiten.
Wir wollen diesen Aufbruch gestalten, so gestalten, dass er tatsächlich für alle eine verheissungsvolle Zukunft bedeuten kann.

Die Wirtschaftswelt befindet sich in einem gewaltigen Umbruch. Kapital, ganze Firmen, aber auch Arbeitsplätze werden innert Minuten über ganze Kontinente verschoben. Schweizerische Unternehmungen spielen in diesem Prozess weltweit eine führende Rolle. Aber auch Staatsbetriebe wie die Post, die Swisscom, die SBB und Elektrizitätswerke werden selbständig, arbeiten mit ausländischen Firmen zusammen oder gehen selbst ins Ausland. Sie bieten neue Dienstleistungen an: Internetanschluss für alle, Halbstundentakt auf vielen Bahnlinien, rollende Postbüros. Andere, uns zur Gewohnheit gewordene Angebote verschwinden im Gegenzug. Dabei gehen auch Arbeitsplätze verloren, aber es werden neue und andere und vor allem zusätzliche geschaffen, z.B. in der Informatik, wo heute Tausende von Arbeitskräften fehlen.

Für unser Land und für die Menschen, die hier wohnen und arbeiten, ist dieser Wandel mehr als eine Notwendigkeit. Er ist eine grosse Chance.

Dennoch haben viele Angst um lieb Gewordenes und blicken verklärt zurück. Hüten wir uns vor Nostalgie. Es ist früher nicht alles besser gewesen. Unser Land hat sich seit seiner Gründung stets aus eigener Kraft verändert  und das zu seinem Vorteil. Der stete Ausbau der direkten Demokratie, der Bau von Bahn-, Strassen- und Stromnetzen, die Gründung von Hochschulen: Das alles war immer auch sehr umstritten, ging immer auch einigen zu schnell. Es hat aber das Leben in unserem Lande erleichtert und die Schweiz auch weltweit konkurrenzfähig gemacht.

Wir dürfen uns nicht von der Angst leiten lassen, nicht gegenüber Fremdem und nicht gegenüber Neuem. Angst beengt das Herz und lähmt den Verstand.

Nein, wir haben Verantwortung für heute und für die Zukunft zu übernehmen: Verantwortung für diejenigen Menschen und Regionen, die vom schnellen Umbau benachteiligt sein könnten. Aufgabe von uns allen  von der Wirtschaft genauso wie vom Staat  ist es, den Umbau mit Rücksicht auf alle zu gestalten, damit der Zusammenhalt in unserem Lande bestehen bleibt, damit die neuen Möglichkeiten für alle Menschen auf dieser Welt zur Chance werden.

Die Chancen stehen gut. Unser Kontinent, der während Jahrhunderten von Kriegen geprägt war, bekommt ein neues Gesicht. Wir dürfen jetzt tatsächlich hoffen, dass er das nächste Jahrtausend ohne Kriege erleben darf.

Das ist ein grosses Ziel, für das wir uns immer wieder einsetzen müssen. Die Schweiz hat ihren Beitrag dazu zu leisten, indem sie die jungen Demokratien auf dem Balkan unterstützt, indem sie sich an der Friedensarbeit beteiligt und dabei auch unseren Soldaten in Kosovo erlauben muss, sich notfalls verteidigen zu können. Wir werden in diesem Jahr darüber abstimmen. Auch die Diskussion um den Beitritt zur UNO werden wir in diesem Jahr intensiv führen. Vergessen wir unsere Verantwortung für die ganze Welt nicht und vergessen wir nicht, wie abhängig wir von dieser Erde sind.

Die Welt öffnet sich uns und wir öffnen uns ihr.

Schranken fallen auch dank Forschung und Technik. Wir haben Anteil an Freiheiten, die bis vor kurzem selbst in unserer Fantasie unvorstellbar waren. Internet und Telekommunikation liessen ein globales Dorf entstehen.

Aber viel einschneidender und persönlicher betreffen uns die medizinischen Fortschritte. Wir konservieren Embryos auf Eis. Die Wissenschaft hat den genetischen Bauplan des Menschen entschlüsselt. Wir können mit dem Gedanken spielen, unsere Kinder, ihr Geschlecht, ihr Aussehen, ihre Fähigkeiten, ihren Charakter nach unseren Vorstellungen zu formen.

Wir können mit neuen Therapien und transplantierten Organen das Leben verlängern.

Gleichzeitig wollen viele über Zeitpunkt und Art des Todes selber bestimmen dürfen. Das sind schwierigste Entscheide, die viele auch überfordern.

Wie nutzen wir diese Freiheiten? Wo soll der Staat Regeln aufstellen? Welche Entscheide überlassen wir dem persönlichen Gewissen? Und wer hilft bei diesen schwierigen Konflikten?

Das sind nicht nur Fragen des Glaubens oder der Philosophie, sondern dies sind die neuen sozialpolitischen Herausforderungen, die wir alle  der Staat, die Wissenschaft, die Kirche, die Wirtschaft, jede und jeder einzelne von uns stellen und beantworten müssen. Wir dürfen diese Fragen und die Antworten darauf nicht verdrängen.

Vergessen wir nicht: In unserer Demokratie sind alle Politikerinnen und Politiker. Ob wir nun unseren Beitrag in Form einer sozialen Tätigkeit leisten oder mit kulturellen Beiträgen, als Einsatz bei Umweltorganisationen, Parteien, im Beruf oder im täglichen Leben, überall und immer geht es um Verantwortung für die Gemeinschaft, denn das Ziel ist trotz allen Wandels um und bei uns dasselbe:

Es ist eine Schweiz, in der viele Kulturen friedlich miteinander verkehren, es ist eine Schweiz, die sozial gerecht sein möchte, die solidarisch sein will mit der Welt; es ist eine Schweiz, in der jeder zu seinem Nächsten sein möchte wie zu sich selber, wo jeder auch seinen Gegner achtet; es ist eine Schweiz, in der wir uns geborgen und zuhause fühlen, eine Schweiz, die für alle von uns Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten schafft, eine Schweiz, die den Aufbruch nicht als ein Risiko scheut sondern als eine Chance sieht und diese auch wahrnimmt.

Diese Heimat zu gestalten, ist eine schöne Aufgabe. Freuen wir uns auf sie, freuen wir uns auf dieses Jahr.

Ich wünsche Ihnen "es guets nöis".

Download Neujahrsansprache 2001 (MP3, 1 MB, 12.09.2014)

Letzte Änderung 30.11.2015

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