1999 - Neujahrsansprache von Bundespräsidentin Ruth Dreifuss

1. Januar 1999 - Es gilt das gesprochene Wort

Meine Damen und Herren,

Das neue Jahr ist das letzte des Jahrhunderts. Es ist mir eine besondere Ehre, Ihnen dazu die besten Wünsche des Bundesrates überbringen zu dürfen. Die Schweiz hat schwierige Jahre erlebt. Von Zweifeln durchzogen fühlte sie sich angegriffen und isoliert. Am heutigen Neujahrstag ist deshalb mein grösster Wunsch, dass wir mit gesundem Vertrauen in unsere Fähigkeiten aus diesem Rückzug herausfinden. So können wir freudig und solidarisch Europa und der Welt begegnen.

Die Schweiz muss wirklich keine Komplexe haben. Die abgeschlossenen bilateralen Verträge bringen uns auf den Geschmack für Europa. Sie werden in diesem Jahr sehr konkrete Diskussionen auslösen. Und wir werden uns dabei auch schon Gedanken darüber machen, wie die Reise weitergehen könnte. Dies alles ist ruhig und ohne Hast möglich.

Das vergangene Jubiläumsjahr hat uns unsere eigene Geschichte näher gebracht. Unser solides demokratisches Erbe verleiht uns Sicherheit für die Zukunft. Kurz vor Jahresende hatte auch die UNO-Menschenrechtserklärung ihren 50. Geburtstag. Sie ist ebenso untrennbar verbunden mit der weltweiten Geschichte von Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie, wie unsere 150 Jahre alter moderner Bundesstaat. Ich wünsche mir für 1999 die Achtung der Menschenwürde als gemeinsames Ziel. Die Menschenrechte wurden jahrhundertelang an allzu vielen Orten, unter allzu vielen Regimes und in allzu vielen Bereichen missachtet und werden sich leider nicht allein in einem Jahr überall auf der Welt durchsetzen. Wir wollen sie aber mit all unseren aussenpolitischen Möglichkeiten verteidigen und unterstützen.

Die Schweiz hat zwar wirtschaftlich schwierige Jahre hinter sich. Die Anzahl Erwerbsloser bleibt zu hoch. Menschenwürdig leben heisst ohne Zukunftsangst leben. Das heisst, alle Menschen müssen echte und freie Lebenschancen verwirklichen können. Die zunehmende Armut in der Schweiz muss uns deshalb aufrütteln. Die Wirtschaft soll hier ihre Verantwortung tragen und darf sich nicht einfach über den Staat entlasten. Wer eine Vollzeitarbeit leistet muss dafür einen zumindest existenzsichernden Lohn erhalten. Auch dies ist eine zentrale Forderung der Menschenrechtserklärung.

Die Jahreswende ist ein guter Anlass, Mittel und Wege zu solidarischem Handeln zu suchen. Das kann im Kreis der Familie, in der Nachbarschaft oder im Rahmen der Politik sein. Die menschliche Gesellschaft ist nur menschlich, wenn wir Menschen uns gegenseitig stützen. Die 150-jährige Geschichte der modernen Schweiz ist in vieler Hinsicht ein gutes Beispiel dafür. Denken wir nur an das völlig gleichberechtigte Zusammenleben unserer unterschiedlichen Minderheiten oder an den Auf- und Ausbau unserer sozialen Netze.

Wir wollen dazu Sorge tragen. Wir wollen Solidarität nach innen und nach aussen leben. Wir wollen, wo immer wir dazu aufgerufen sind Menschen am Rande, Armen, Kranken und Unterdrückten nach unseren Möglichkeiten helfen. Verschliessen wir die Augen nicht vor dem Elend hier und in der Welt. Wenn wir uns aktiv und solidarisch dagegen auflehnen, schöpfen wir Mut und Selbstvertrauen und bauen an unserer sichereren Zukunft.

Ich wünsche Ihnen ein glückliches Jahr.

Download Neujahrsansprache 1999 (MP3, 952 kB, 12.09.2014)

Letzte Änderung 01.12.2015

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