1997 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Arnold Koller

1. Januar 1997 - Es gilt das gesprochene Wort

Für das neue Jahr wünsche ich Ihnen und Ihren Familien Gesundheit und Gottes Segen. Meine besonderen Wünsche richte ich an jene Menschen, die es schwer haben, das neue Jahr mit Freude und Hoffnung zu beginnen, vor allem an die Kranken, die Arbeitslosen und die Hilfsbedürftigen in unserem Land. Denken wollen wir aber auch an die unzähligen Verfolgten, Hungernden und Leidenden in aller Welt. Bleiben wir uns bewusst: menschliche Gemeinschaften, die Familie wie der Staat, sind immer so stark wie ihre Bereitschaft, den Schwachen zu helfen.

Viele von Ihnen machen sich an diesem Jahresanfang echte Sorgen um die Zukunft, die eigene und die der Schweiz. Sechs Jahre ohne wirtschaftliches Wachstum, gezeichnet von schärferem internationalem Wettbewerb, zeigen auch in unserem lange so privilegierten Land Wirkung. Dabei vergessen wir freilich allzu leicht, dass es uns auch heute besser geht als den meisten Menschen dieser Welt. Unsere persönliche und soziale Sicherheit ist im Vergleich mit dem Ausland hoch. Auch im weltweiten Wettbewerb haben wir nach wie vor viele gute Trümpfe in der Hand: das gute Ausbildungsniveau, die politische Stabilität, der soziale Frieden, die hohe Leistungsbereitschaft, die geringe Teuerung, der weit verbreitete Bürgersinn.

Trotzdem: Unser Land befindet sich in einem Umbruch. Die Umstrukturierung unserer grossen Unternehmungen und der unaufhaltsame wirtschaftliche Globalisierungsprozess verunsichern Volk und Behörden. Die Politik kann und will diesen Prozess nicht verhindern. Aufgabe der Politik ist es aber, jenseits des Marktes für den Ausgleich der Interessen zu sorgen, der «Schwache schützt und Zügellose im Zaum hält». Wir bauen auch auf das Verantwortungsbewusstsein und die Einsicht unserer Wirtschaftsführer, dass der harte weltweite Wettbewerb nicht zu einer Ausplünderung unserer gemeinsam errungenen menschliche Werte wie Menschenwürde, Solidarität und soziale Gerechtigkeit führen darf. Denn diese sind nicht nur Grundlagen unseres Staates, sondern auch unverzichtbar für unsere Wirtschaft. Nur wenn wir erkennen und anerkennen, dass die Globalisierung nicht allein ein Wettbewerb um Märkte ist, sondern auch um menschliche Werte, werden wir gemeinsam weiterkommen und längerfristig Erfolg haben.

Unsere politische Kultur ist eine Kultur des Dialogs. Ohne diesen ernsthaften Dialog werden wir keinen Ausweg finden aus der zunehmenden Polarisierung. Es darf nicht geschehen, dass sich unser Land immer mehr verhärtet zu einer Schweiz, die der Öffnung nach aussen verpflichtet ist, und zu einer Schweiz, die nur auf Bewahrung des Herkömmlichen und auf Abschottung gegen alles Fremde setzt. Es darf nicht soweit kommen, dass wir Schweizerinnen und Schweizer zwar im selben Land, aber in unterschiedlicher Heimat leben. So können und wollen wir dieses Jahrhundert nicht beenden. Wir haben gerade im kommenden Jahr eine gute Chance, aus der heutigen Blockierung herauszukommen, wenn wir mehr aufeinander hören und uns gegenseitig ernst nehmen.

Ich habe es gesagt und wiederhole es bewusst: Wir haben nach wie vor viele gute Trümpfe in unserer Hand, aber wir müssen sie jetzt ausspielen. Wir haben genügend Kraft, uns nach innen und aussen erfolgreich zu behaupten. Wir alle, nicht nur die Wirtschaftsführer und Politiker, das ganze Volk ist dabei gefordert. Stellen wir uns den neuen Herausforderungen rechtzeitig mit Tatkraft, Zuversicht und Gemeinsinn. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und mir, dass das neue Jahr ein Jahr des Aufbruchs werde.

Download Neujahrsansprache 1997 (MP3, 769 kB, 12.09.2014)

Letzte Änderung 01.12.2015

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