1995 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Kaspar Villiger

1. Januar 1995 - Es gilt das gesprochene Wort

Im Namen des Bundesrates wünsche ich Ihnen für das Jahr 1995 Glück, Gesundheit, Mut und Zuversicht! Wir leben in einem schönen, wohlhabenden und freien Land. Unsere politische Kultur mit direkter Demokratie, Milizprinzip und Föderalismus ermöglichte das harmonische Zusammenleben vieler Minderheiten, Kulturen und Sprachen. Private Initiative, Bereitschaft zum Wettbewerb, Fleiss und, Weltoffenheit erzeugten Wohlstand. Gelebte Selbstverantwortung und gelebte Solidarität verbürgten eine freie und zugleich soziale Gesellschaft. Noch immer geht es uns im internationalen Vergleich überdurchschnittlich gut.

Nach Jahren der Stabilität und des Wachstums tauchen nun aber plötzlich Probleme auf: Arbeitslosigkeit, Defizite im Bundeshaushalt, Risse im nationalen Zusammenhalt, offene Drogenszenen, neue Armut. Wir zweifeln an uns selber, suchen nach unserer Identität im neuen Europa, sind verunsichert. Einfache Rezepte zur Lösung dieser Probleme gibt es nicht.

Trotzdem bin ich optimistisch. Der wirkliche Zustand unseres Landes ist besser als unser subjektives Befinden. Und Schwierigkeiten sind immer auch Chancen. Der Staat muss leistungsfähig sein, gewiss, er muss sozial sein, er muss denen Schutz und Hilfe gewähren, die Schutz und Hilfe brauchen. Die Erfahrung zeigt aber, dass auch er nicht alle Probleme lösen kann.

Wir alle müssen deshalb wieder den Willen und die Kraft aufbringen, die Probleme in erster Linie selber anzupacken, statt immer zuerst nach der helfenden Hand des Staates zu rufen. Sonst wird dieser Staat chronisch überfordert. Die Defizite der Staatsrechnung belegen es. Nur ein finanziell gesunder Staat ist auch ein starker, sozialer und solider Staat. Die Basis dafür ist eine leistungsfähige Wirtschaft. Es ist für unser Land lebenswichtig, dass der Wirtschaftsstandort Schweiz international konkurrenzfähig bleibt. Denn der Konkurrenzkampf zwischen Wirtschaftsstandorten ist gnadenlos. Noch haben wir viele Trümpfe. Aber wir dürfen sie nicht verspielen. Mit den bilateralen Verhandlungen in Brüssel, mit dem neuen GATT-Vertrag und mit dem Vitalisierungsprogramm will der Bundesrat die Standortbedingungen verbessern. Für die Wirtschaft selber ist es jetzt an der Zeit, mit Risikofreude, Pioniergeist und Innovationsmut Initiativen zu entwickeln. Dies kann ihr der Staat nicht abnehmen.

Uneinig sind wir in Sachen Europa. Die einen wollen sofort der EU beitreten, die andern sehen das Heil in der Abgrenzung zu Europa, und die dritten sind in sich selber gespalten. Alle Lager haben ernstzunehmende Argumente. Wir sollten vom polarisierenden Schlagabtausch zurückfinden zum konstruktiven Dialog, wir sollten - und dies nicht nur in der Europapolitik - wieder lernen, den Andersdenkenden zuzuhören. Vielleicht könnte sich aus solchem Dialog eine konsensfähige Europapolitik entwickeln.

Sicher ist für mich eines: In einer Welt voller gegenseitiger Abhängigkeiten, in einer Welt, in der viele grosse Probleme nur noch von der Völkergemeinschaft gemeinsam gelöst werden können, in einer solchen Welt ist der Weg der Isolation kein gangbarer Weg. Oft bin ich in diesen Tagen gefragt worden, welches mein grösster Neujahrswunsch sei. Meine Antwort ist einfach: Ich wünschte mir, dass es gelingen möge, Gräben zu überwinden. Gräben zwischen Alt und Jung, Stadt und Land, Deutsch und Welsch, Rechts und Links.

Einig sind wir stärker. Eine der Voraussetzungen für das Zusammenleben unserer Kulturen, Sprachgruppen und Minderheiten ist die Bereitschaft zum gegenseitigen Respekt, zum gerechten Interessenausgleich, zum tragfähigen Kompromiss. Dieses Zusammenleben ist es ja eigentlich, was die Staatsidee der Schweiz ausmacht. Wir müssen uns dessen wieder vermehrt bewusst werden. Und gerade in einer Welt voller ethnischer und weltanschaulicher Konflikte könnte die Idee Schweiz wieder Strahlungskraft auch über unsere Landesgrenzen hinaus bekommen! Nicht zum ersten Mal in unserer Geschichte müssen wir Schwierigkeiten überwinden. Wir haben die Kraft dazu auch heute. Packen wir's an!

Letzte Änderung 01.12.2015

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