1994 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Otto Stich

1. Januar 1994 - Es gilt das gesprochene Wort

Gemeinsam beginnen wir heute das Jahr 1994. Im Namen des Bundesrates wünsche ich Ihnen ein gutes neues Jahr. Gute Wünsche können wir alle gebrauchen. Wir wissen nicht, was uns das neue Jahr bringt.

Viele von uns stehen vor scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten. Ich denke an alle, die Sorgen und Schmerz zu tragen haben. Ich denke heute aber auch besonders an die Menschen, die von Rezession und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Ihnen allen wünsche ich für das neue Jahr Gesundheit, Mut und Zuversicht.

Wenn wir in die Welt hinausblicken, bedrücken uns Bilder von Krieg und Hunger. Im Vergleich dazu geht es uns gut. Das dürfen wir dankbar feststellen. Und es soll Anlass sein, unseren Beitrag zur Linderung des Elends in vielen Teilen der Welt zu leisten. Aber auch in unserem Land stehen wir zahlreichen Problemen gegenüber. Viele Menschen sind ohne Verschulden in Notgeraten. Sie können an unserem Wohlstand nicht mehr teilhaben und zweifeln am Sinn des Lebens.

Es gibt keine Patentrezepte, um unsere Schwierigkeiten zu überwinden. Zu unseren bisherigen Anstrengungen müssen wir noch mehr unternehmen und uns im Gespräch an unsere Stärken erinnern: den Gemeinsinn, die Verständigung zwischen den vier Kulturen, die Sozialpartnerschaft, die Solidarität unter den Generationen und die Weltoffenheit.

Die Schweiz ist ein kleines Land. Sie ist überschaubar. Wir kennen einander und sind aufeinander angewiesen. Wir sind hier zu Hause. Unseren Lebensraum können wir wohnlich gestalten. Diese Aufgabe ist anspruchsvoll. Sie verlangt von uns Willen, Tatkraft und Geduld. Lösen wir unsere Probleme so, dass sich alle Menschen, die hier leben, wohl und sicher fühlen. Das ist unser Ziel.

Ein Arbeitsplatz für alle ist dabei eine wichtige Voraussetzung. Die Türen zur Arbeitswelt müssen auch für die Jungen offenstehen. Arbeit und Einsatz sollen den Aufbau einer Existenz und ein Alter ohne Sorgen ermöglichen. Und wer unverschuldet in Not gerät, soll auf die Solidarität der Gemeinschaft zählen können.

Arbeitsplätze können wir nur erhalten und neu schaffen, wenn unsere Produkte und Dienstleistungen auf den Weltmärkten wettbewerbsfähig sind. Deshalb dürfen wir nicht auf dem Polster des Erreichten ausruhen.

Verschiedene Anzeichen lassen auf eine Verbesserung der Wirtschaftslage hoffen. Diese Entwicklung müssen wir unterstützen: Eine gesunde Wirtschaft braucht gesunde Staatsfinanzen. Sie sind die Grundlage für soziale und politische Stabilität. Dieses Fundament unseres Finanz- und Werkplatzes Schweiz dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Grosse Anstrengungen sind noch notwendig.

In unserem Land leben verschiedene Kulturen mit- und füreinander. Unterschiedliche Meinungen und Gewohnheiten ergänzen sich. Andersdenkende gehören dazu. Dieser Wille zum Ausgleich und zur Toleranz macht unsere Lebenskraft aus. Wenn wir uns über unsere eigenen

Ziele einig sind, dann sind wir stark genug, um weltoffen über die Grenzen zu blicken. Die Bestrebungen der Europäischen Union zur wirtschaftlichen Integration und zum friedlichen Zusammenleben fordern auch unser Land heraus. Wir müssen unseren Weg und unseren Platz in Europa finden und Formen der partnerschaftlichen Zusammenarbeit suchen.

Die Schweiz ist stark in die Weltwirtschaft eingebunden. Der erfolgreiche Abschluss der GATT-Verhandlungen hält unserer Wirtschaft die Türen zur Welt offen. Mit der Verständigung über verbesserte Regeln des Welthandels sind auch Schritte zu einer friedlicheren und gerechteren Welt möglich.

Wir haben in der Staatengemeinschaft unseren Platz und tragen an der Verantwortung für das Ganze mit. Weltoffenheit hat uns Anerkennung und Wohlstand gebracht. Wir brauchen sie auch in Zukunft.

Gemeinsam haben wir heute ein neues Jahr begonnen. Ich bin zuversichtlich, dass wir 1994 bei der Lösung unserer Probleme einen Schritt weiterkommen. Dabei hoffe ich auf Ihre Unterstützung.

Ich wünsche Ihnen allen ein frohes und gesegnetes neues Jahr.

Letzte Änderung 01.12.2015

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