1993 - Neujahrsansprache von Bundespräsident Adolf Ogi

1. Januar 1993 - Es gilt das gesprochene Wort

Wir stehen am Jahresende, und am Jahresanfang. Am Schnittpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt,

innezuhalten,
Erinnerungen zu ordnen,
Erwartungen Ausdruck zu geben.
Erwartungen an das kommende Jahr, an uns selbst, an unsere Mitmenschen. Schöne und schwere Erinnerungen aus dem verflossenen Jahr.

Zeit des Wandels
Wir leben in einer Zeit des Wandels. In einer Zeit des raschen Wandels von Wertvorstellungen, des Zusammenlebens und der technischen Möglichkeiten. Ein Wandel, den viele als Bedrohung empfinden.

Ein Wandel ist eine Chance, keine Gefahr! Unser Land hat schon grosse Umwälzungen erlebt. Und immer ging die Schweiz gestärkt und geeinigt aus diesen Perioden des Wandels hervor. Vergessen wir Trägheit, ((Reduit-Mentalität» und Rückzug ins Schneckenhaus. Ein Schneckenhaus ist zerbrechlich. Stellen wir uns mit Zuversicht und Gottvertrauen der Herausforderung! Der Zukunft! Ich bin sicher, dass wir sie mit Erfolg bestehen werden !

Entscheid EWR
Im verflossenen Jahr hat die Diskussion um den EWR breiten Raum eingenommen. Die Mehrheit von Volk und Ständen hat entschieden. Sie kennen die Konsequenzen: Gräben wurden aufgerissen,

zwischen Romandie und deutscher Schweiz,
zwischen Stadt und Land,
zwischen Jung und Alt.
Es ist unser aller Aufgabe und Pflicht, gemeinsame Lösungen und einen gemeinsamen Weg in die Zukunft zu finden. Gemeinsam sind wir stark. Und Gemeinsamkeit ist auch dann möglich, wenn wir politisch unterschiedliche Meinungen vertreten. Das hat die Vergangenheit bewiesen. Und das wird die Zukunft zeigen.

Ich spreche hier in Genf. Im Hintergrund sehen Sie die Silhouette der Rhonestadt mit den Türmen der Kathedrale St-Pierre und den Pappein der Rousseau-lnsel. Ich habe diesen Ort gewählt, weil mir die Zusammengehörigkeit von uns Schweizern so am Herzen liegt - uns so verschiedenartigen Schweizern. Die Zusammengehörigkeit von französischsprachigen Schweizern, von italienischsprachigen Schweizern, von romanischsprachigen Schweizern und von deutschsprachigen Schweizern. Auch die Zusammengehörigkeit von Jung und Alt, von Stadt und Land.

Das Gefühl zusammenzugehören ist ein gutes Gefühl: Es vermittelt Geborgenheit, und es macht stark. Es ist wichtig, dass eine starke Schweiz im Gespräch bleibt mit ihren Nachbarn. Dass wir als starkes Land den Nachbarn unsere Situation erklären und dass wir als starkes Land die notwendigen Schritte in Richtung Europa und Welt gehen. Die Schweiz kann sich eine Isolation nicht leisten. Die Schweiz ist keine Insel. Die Schweiz liegt im Herzen Europas. Sie ist eingebettet in eine weltweite Schicksalsgemeinschaft.

Wirtschaftlicher Ausblick
Was bringt uns das kommende Jahr? Sicher wird es kein leichtes Jahr sein. Der wirtschaftliche Aufschwung muss erkämpft werden. Die Arbeitslosigkeit wird ein Problem bleiben. Es werden weiterhin Flüchtlinge aus verschiedenen Staaten bei uns um Asyl nachsuchen. Wir brauchen zielgerichtete Programme, damit die Wirtschaft ihre Energie frei entfalten kann. Wir müssen alles daran setzen, um unsere wirtschaftliche Stärke wieder zu erlangen. In erster Linie müssen wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen. Vor allem dürfen wir junge Menschen nicht ohne Arbeit und Aufgabe in unserer Gesellschaft lassen. 1993 wird kein leichtes Jahr sein. Auf jeden Fall wird die Schweiz aber weiterhin zu den privilegierten Staaten dieser Erde gehören. Zeigen wir uns als würdige Nachfahren von Heinrich Pestalozzi und Dunant! Reichen wir eine helfende Hand den hungernden Kindern, den Kriegsopfern und den Flüchtlingen. Wie diese zwei grossen Schweizer es getan haben. Die Schweiz muss auch für sie da sein.

Vision Schweiz
Ich habe eine Vision. Ich wünsche mir eine Schweiz der lebendigen Vielfalt, des modernen und effizienten Föderalismus. Und ich wünsche mir eine Schweiz der Begegnungen von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Kultur.

Ich wünsche mir eine Eidgenossenschaft mit erneuertem Gemeinsinn, mit mehr Offenheit gegenüber Andersdenkenden. Mit Selbstbewusstsein. Unser Land muss ein Ort des direkten Gesprächs und der fairen Auseinandersetzungen sein. Unser Land muss ein Hort der Geborgenheit für Bedürftige und Verfolgte sein. Ein Platz, wo kranke und einsame Mitmenschen Nähe erfahren. Gerade die Kranken und die Schwachen brauchen Zuwendung, brauchen Solidarität und brauchen echte Gesprächsbereitschaft.

Aber zur Verwirklichung dieser Vision brauchen wir Selbstbesinnung und Kraft. Mit Gottes Hilfe und mit Selbstvertrauen haben wir die Zukunft der Schweiz unsere Zukunft - in der Hand. Helft mit! Im Namen des Bundesrates wünsche ich allen, die hier wohnen, hier arbeiten, zu Besuch weilen oder Zuflucht vor Bedrohung gefunden haben, ein glückliches neues Jahr!

Letzte Änderung 01.12.2015

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