1992 - Neujahrsansprache von Bundespräsident René Felber

1. Januar 1992 - Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger

An der Schwelle zu einem neuen Jahr ist es uns zur Gewohnheit geworden, gute Wünsche auszutauschen. Wie wäre es, wenn wir uns über diese fast routinemässigen Glückwünsche hinaus ein paar Minuten Zeit nähmen, um uns gemeinsam ein paar Fragen zu stellen! 1992! Ein Jahr, von dem am Fernsehen, am Radio und in den Zeitungen so oft die Rede war! Geht etwas Magisches von ihm aus, oder weckt es in uns besondere Hoffnungen und Ängste? Wird uns das Jahr, das vor uns steht, neue politische Umwälzungen bringen? Werden wir unschuldige Opfer einer Wirtschaftsflaute, die uns die Unternehmungslust raubt? Wird die Inflation weiter ansteigen? Wird die Zahl der Arbeitslosen zunehmen? Wird sich die Schweiz Europa annähern? Werden die Gesundheitskosten ausser Kontrolle geraten? Werden unsere traditionellen Institutionen in der Lage sein, die Herausforderungen zu bestehen, oder wird eine neue Ordnung an ihre Stelle treten, die vielleicht gar so neu sein wird, dass wir darin lediglich das Alte wiedererkennen? Das sind - in freier Folge - die Probleme, die uns in den Tageszeitungen wieder begegnen werden, sobald der letzte Neujahrs-Champagner getrunken sein wird! Natürlich wünschen wir uns alle ein glückliches Jahr, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir selbst es sind, die für unser Glück sorgen müssen. Wenn wir uns mutig engagieren, werden wir neue Kraft erhalten und weniger erlahmen, als wenn wir uns einem fatalistischen Denken hingeben und vor den Schwierigkeiten die Arme sinken lassen. In unserem Lande selbst werden uns der Konjunkturrückgang und die Inflation vor ernsthafte soziale Probleme stellen. Und vergessen wir nicht die Armut, der verschiedenen Schichten unserer Bevölkerung in zunehmendem Mass ausgesetzt sind; dies wird von den betroffenen Menschen um so schmerzhafter empfunden, als sie in einem Land leben, das mit allen äusseren Zeichen des Reichtums versehen ist. Zudem werden wir, und zwar noch für lange Jahre, nicht darum herumkommen, uns mit dem äusserst komplexen Problem der Migration und des Asyls auseinanderzusetzen. In all diesen Bereichen dürften die Massnahmen, die der Bundesrat bereits getroffen hat oder noch vorschlagen wird, Grund sein, wieder Hoffnung zu schöpfen. Vor allem werden wir uns mit der Krankenversicherung und der AHV beschäftigen und Lösungen finden müssen, die das Leben der am meisten Benachteiligten unter uns verbessern können. Auch hier werden wir zu mehr Solidarität finden müssen. Dabei dürfen wir nicht der Versuchung zu allzu einfachen Lösungen erliegen, die uns weismachen wollen, «die andern» seien für unsere Nöte und Probleme verantwortlich. Mit jedem Tag erfahren wir deutlicher, wie sehr die Staaten unserer Erde und erst recht unseres Kontinents von einander abhängig sind. Wir können die Schweiz nicht unter eine Glasglocke stellen, um sie - die sich mit strengen Normen für eine saubere Umwelt einsetzt vor den Verschmutzungen zu bewahren, die Wind und Niederschläge uns bescheren. Wir können unsere Industrie nicht entbehren. Sie produziert zwar vor allem für den Export, sichert aber einen grossen Teil unserer Arbeitsplätze. Wir können nicht auf die Einfuhr der Energie verzichten, die wir für Heizung und Verkehr brauchen. Wir sind mit der Welt, die uns umgibt, unmittelbar verbunden. All das bringt uns auf das Thema Europa und erinnert uns daran, dass wir uns entscheiden müssen, wie wir die Beziehungen mit unseren Nachbarstaaten, an deren Kulturen wir teilhaben und mit deren Schicksal wir eng verbunden sind, gestalten wollen. Nachdem wir uns an den 700-Jahr-Feiern daran erinnert haben, wie die moderne Schweiz aus einer Entwicklung hervorgegangen ist, die ihre schmerzhaften, aber auch ihre kühnen Epochen gekannt hat, müssen wir uns heute bewusst werden, dass unsere Traditionen, unsere Institutionen und unsere Anpassungsfähigkeit, denen wir unseren modernen und starken Staat verdanken, es uns erlauben sollten, am europäischen Integrationsprozess teilzunehmen, ohne unsere Identität zu gefährden und unsere Eigenarten zu verlieren. So wenig wie beispielsweise die Zürcher durch ihre Mitwirkung in der Eidgenossenschaft zu Waadtländern geworden sind, so wenig wird die Schweiz durch die Zusammenarbeit mit den andern europäischen Staaten sich selbst untreu werden. Eines ist sicher: Wir stehen vor einer grossen Herausforderung. Der Bundesrat hofft, dass unsere politische Kultur es uns ermöglicht, engagiert zu debattieren und nicht jenen zu folgen, die aus der Diskussion einen Kampf der Europabefürworter und der Europagegner machen wollen. Ein solcher Kampf würde nur Spuren hinterlassen, die uns teuer zu stehen kämen. Die demokratische Auseinandersetzung dagegen erlaubt es jedem, seine Meinung einzubringen und ermöglicht klare Antworten auf die Fragen, die Sie sich, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, legitimerweise stellen. Ich wünsche mir, dass auch die jungen Schweizerinnen und Schweizer Gelegenheit erhalten, ihre Vision des Landes und des Kontinents, auf dem ihr Leben sich entfalten soll, vorzustellen. Ich hoffe nicht, dass irgendwelche Tabus den Dialog verhindern werden. Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, im Neuen Jahr werden sich uns viele Fragen und Herausforderungen stellen. Packen wir sie gemeinsam und entschlossen an! Ihnen allen, vor allem aber denen unter Ihnen, die seelische oder körperliche Not leiden, wünsche ich, dass Sie bei Ihren Nachbarn, bei Ihren Miteidgenossen, die Solidarität finden mögen, die wir zum Leben - oder zum Überleben - brauchen.

Letzte Änderung 01.12.2015

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